Dalberg sandte den jungen Domherrn zunächst als seinen Bevollmächtigten nach Bern zu den Verfassungsberatungen der Helvetischen Republik, um dort die bischöflichen Rechte in der konstanzischen Schweizer Quart zu vertreten und vor allem den Fortbestand der dortigen Stifte und Klöster zu sichern. Wessenbergs Mission verlief so erfolgreich, dass ihn sogar der Papst dafür belobigen ließ.5 Im Frühjahr 1802 übertrug Dalberg dem gerade Siebenundzwanzigjährigen, der zwar inzwischen Subdiakon (1799), aber noch nicht Priester war, das Amt des Präsidenten der Geistlichen Regierung und des Generalvikars im Bistum Konstanz (Amtsantritt am 20. April 1802).
Man mag sich fragen, welche Motive Wessenberg, einen hochgebildeten, weltoffenen und energiegeladenen jungen Adeligen, der in seiner Jugend unter ganz anderen Voraussetzungen, auch aus Gründen einer seinem gesellschaftlichen Rang angemessenen künftigen Versorgung, als Domherr aufgeschworen worden war, veranlasst haben, das bereits sinkende Schiff „Reichskirche“ noch zu besteigen, statt sich mit Hilfe seiner hochkarätigen verwandtschaftlichen Beziehungen auf ein glänzenderes Berufsziel, etwa im staatlichen Bereich, umzuorientieren, zumal er noch keine höhere Weihe empfangen und gerade eben seine diplomatischen Fähigkeiten unter Beweis gestellt hatte. Wessenberg gab rückblickend selbst die Antwort: „Für politische Geschäfte hatte ich wenig Geschmack und Neigung, und weltlicher Glanz hat nie einen Reiz für mich gehabt. Meinen Lebensberuf hatte ich damals schon fest ergriffen. Eine wahre Verbesserung der kirchlichen Zustände war die höchste Idee, für deren Verwirklichung ich mir Sinn und Kraft zutraute“6. Jedoch bekräftigte er auch: „Beim ersten Eintritt ins öffentliche Leben habe ich es mir zur wesentlichen Aufgabe gemacht, die Unabhängigkeit meines Geistes von den obwaltenden Tagesmeinungen und vor allen Parteiungen unversehrt zu bewahren. Dies hielt ich zur Behauptung eines selbständigen Charakters für durchaus nothwendig, und diese Selbständigkeit des Charakters für erforderlich, um jederzeit seinem Gewissen und seiner Überzeugung treu zu bleiben. Dem Beschluß mich durch Nichts von Beobachtung dieser obersten Lebensvorschrift abwendig machen zu lassen verdank‘ ich es, in wichtigen Dingen nie schwankend geworden zu sein“7.
Schon wenige Monate nach Wessenbergs Amtsantritt, am 4. Juli 1802, trat der Mainzer Kurfürst Friedrich Karl von Erthal resigniert seine Ämter und Würden an Dalberg, seinen Koadjutor und designierten Nachfolger, ab; kurz darauf, am 25. Juli 1802, starb er. Doch die Stadt Mainz war seit 1797 fest in französischer Hand. Im Diktatfrieden von Lunéville hatte Napoleon, der Sieger im Zweiten Koalitionskrieg gegen die revolutionäre Französische Republik und deren Erster Konsul, die linksrheinischen Reichsgebiete mitsamt der Stadt Mainz definitiv Frankreich einverleibt8 und auf der Grundlage seines im selben Jahr mit dem Papst geschlossenen Konkordats (15. Juli 1801)9 ein französisches Bistum Mainz errichtet. Unmittelbar nach Kurfürst Erthals Resignation, am 6. Juli 1802, setzte er in Mainz eigenmächtig einen Bischof (Joseph Ludwig Colmar) ein.10 Im Frühjahr 1803 brach über die Reichskirche definitiv die Säkularisation herein. Als erster Kurfürst des Reiches und Reichserzkanzler wurde Dalberg zwar als einziger geistlicher Reichsfürst von der Säkularisation (vorläufig) ausgenommen. Allerdings wurde der „Stuhl zu Mainz“ auf die „Domkirche zu Regensburg“ übertragen und mit ihm „die Würden eines Kurfürsten, Reichs-Erzkanzlers, Metropolitan-Erzbischofs und Primas von Deutschland … auf ewige Zeiten damit vereiniget“ – wie es in § 25 des Reichsdeputations-Hauptschlusses vom 25. Februar 1803 heißt.11 Mit der Stadt und dem Hochstift Regensburg sowie mit Aschaffenburg und der Grafschaft Wetzlar schuf man für Dalberg zugleich ein neues Fürstentum. Angesichts des faktischen Zusammenbruchs der überkommenen kirchlichen Organisation auf dem Boden des Reiches infolge der Besitzenteignung der Bischofsstühle und der Domkapitel kamen auf Dalberg kraft seines Amtes als „Metropolitan-Erzbischof und Primas von Deutschland“ Verpflichtungen und Belastungen zu, die ihn zwangen, Wessenberg die Leitung seines Konstanzer Sprengels ganz zu überantworten.
Doch der junge Konstanzer Generalvikar wollte nicht nur kirchlicher Verwaltungsmann, sondern vor allem auch geistlicher Lehrer und Erzieher des Volkes und des Klerus sein, um das von den Revolutionskriegen erschütterte Bistum Konstanz angesichts äußerer Gefährdung einer religiös-kirchlichen Erneuerung im Sinne der Reformanliegen einer katholischen Aufklärung zuzuführen, wie sie bereits einige bischöfliche Hirtenbriefe in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts programmatisch gefordert hatten12; denn er war überzeugt, dass nur eine innerlich geläuterte, ihrer Verantwortung für die Menschen bewusste Kirche gegenüber den Anforderungen des mit Gewalt heraufziehenden neuen Zeitalters werde bestehen können. Und es ist faszinierend, anhand seiner stets eigenhändigen amtlichen Korrespondenzen13 zu verfolgen, mit welch überlegener und zugleich gewinnender Souveränität er von Anfang an seines Amtes waltete und was er als kirchlicher Reformer trotz schwierigster äußerer Verhältnisse, vor allem in finanzieller und personeller Hinsicht, zuwege brachte. Natürlich nahm er dabei Reformanliegen auf, die in den genannten Hirtenbriefen, in den pastoral- und moraltheologischen Schriften Johann Michael Sailers und anderer „aufgeklärter“ Theologen artikuliert worden waren. Aber während ringsum infolge der widrigen Zeitumstände Stagnation eintrat, setzte er diese Anliegen in „seinem“ Bistum konsequent und beispielhaft in die Tat um.
Um nur ein paar seiner – damals als sehr progressiv empfundenen – Reformmaßnahmen zu nennen: Um die Gläubigen zu aktivem Mitfeiern der Liturgie und zu deren vertieftem Verständnis heranzuführen – eines seiner seelsorgerlichen Hauptanliegen – , sorgte er für die Übersetzung liturgischer Texte in die Volkssprache (für Taufe, Krankenölung, Beerdigung, Erstkommunionfeier), allerdings sehr bewusst – um keine Anfeindungen zu provozieren – mit Ausnahme des lateinischen Messordinariums und vor allem des Kanons des Messe; statt dessen ließ er Messandachten für die Gläubigen erarbeiten. 1812 erschien das unter seiner Leitung bearbeitete, an Heiliger Schrift und liturgischer Tradition orientierte „Christkatholische Gesang- und Andachtsbuch“, das – gewiss aufgeklärt getönt – bis 1870 immerhin 32 Auflagen erlebte.14 Und noch 1831, als man ihn längst in Pension geschickt hatte, legte er, seine liturgischen Reformbemühungen zusammenfassend, ein volkssprachliches Ritual im Druck vor, das 1833 in zweiter Auflage erschien (und 1835 im Zuge des Verbots privater Ritualien für das Erzbistum Freiburg suspendiert wurde).15 Er verpflichtete die Pfarrer zu regelmäßigen, an den Evangelien orientierten Sonntagspredigten, und zwar nach dem Evangelium, innerhalb der Messe, die die Gläubigen mitfeiern sollten (statt in ihr, wie zumeist