Die Wirksamkeit dieser und anderer Reformen setzte natürlich die Bereitschaft des Klerus, sie mitzutragen, und dessen entsprechende Schulung voraus. Wessenberg legte deshalb bei den Priesterkandidaten größten Wert auf den Nachweis einer soliden, und zwar biblisch und historisch fundierten, akademisch-theologischen Ausbildung (an einer Universität oder Hochschule freier Wahl, wie damals üblich). Im Anschluss an ihr Studium verpflichtete er sie zu einem zehnmonatigen praktisch-pastoralen Kurs im Priesterseminar zu Meersburg18 (die Schweizer Diözesanen im Luzerner Priesterseminar), an dessen Ende er sie persönlich prüfte, ehe er sie zum Weiheempfang zuließ.19 Am Abend vor dem Weiheempfang pflegte er den Priesterkandidaten im Meersburger Seminar auch – übrigens recht einfühlsam und mit religiöser Innerlichkeit – zu predigen, darum bemüht, ihnen das (von Johann Michael Sailer so nachdrücklich herausgestellte) Idealbild des „Geistlich-Geistlichen“ nahezubringen.20
Darüber hinaus verlangte er von seinem Bistumsklerus, sich um theologische Fortbildung zu bemühen. Zu diesem Zweck führte er in den einzelnen Landdekanaten – zur berufsbegleitenden Weiterbildung – die jährlich viermalige Abhaltung von Pastoralkonferenzen ein (eine Einrichtung, die bereits vom Konzil von Trient gefordert, aber kaum irgendwo realisiert worden war).21 Zu deren Vorbereitung aber mussten die einzelnen Priester anhand eines von ihm konzipierten umfänglichen Themenkatalogs Referate schriftlich ausarbeiten und bei ihm einreichen. Er forderte von ihnen somit aktive Mitarbeit und Teilnahme (was vermutlich nicht gar allen „schmeckte“); denn so seine Überzeugung: „Lieber gar keine Geistlichen als geistesträge Ignoranten, von denen Einer mehr verdirbt, als ein Halbduzend brave Männer gut machen können“22. Die besten Beiträge publizierte er, auch als Anreiz zur Mitarbeit, in der von ihm bereits 1802, bei Amtsantritt, ins Leben gerufenen „Geistlichen Monatsschrift“, die 1804 in „Archiv für die Pastoralkonferenzen in den Landkapiteln des Bisthums Constanz“ umbenannt wurde. Von ihm redigiert, erschien das „Archiv“ in regelmäßiger Folge bis zum Ende seiner offiziellen Amtstätigkeit 1827, im Ganzen 48 Bände.23
Mit allen diesen Reformen suchte er – um es nochmals zu sagen: unter äußerst schwierigen Zeitumständen – zu gutem Teil in die Wege zu leiten bzw. nahm er im Bistum Konstanz vorweg, was hundert Jahre später die (maßgeblich von Romano Guardini [1885-1968] inspirierte) liturgische Bewegung als dringendes Anliegen sich zu eigen machte und eher geduldet in kleinen Zirkeln praktizierte (ohne sich freilich des damals kirchlich diffamierten „Vorläufers“ Wessenberg zu erinnern) und was erst eineinhalb Jahrhunderte später das Zweite Vatikanische Konzil (1962-1965) in seinen einschlägigen Konstitutionen und Dekreten lehrte bzw. als überfällige Forderungen und Desiderate anmahnte, beispielsweise bezüglich der Heranführung der Gläubigen „zu der vollen, bewußten und tätigen Teilnahme an den liturgischen Feiern, wie sie das Wesen der Liturgie selbst verlangt und zu der das christliche Volk, ‚das auserwählte Geschlecht, das königliche Priestertum, der heilige Stamm, das Eigentumsvolk’ (1 Petr 2,9; vgl. 2,4-5) kraft der Taufe berechtigt und verpflichtet ist“ (ad plenam illam, consciam atque actuosam liturgicarum celebrationum participationem …, quae ad ipsius Liturgiae naturam postulatur et ad quam populus christianus, ‚genus electum, regale sacerdotium, gens sancta, populus adquisitionis’ … vi Baptismatis ius habet et officium)24. Von genau derselben Intention waren die liturgischen Reformen Wessenbergs geleitet, in denen es ihm um die Weckung der rechten christlichen, biblisch begründeten, d.h. christologisch vertieften25 Gottesverehrung ging. Und Ähnliches gilt vom Konzept seiner Priestererziehung und -fortbildung. Zu seiner Zeit aber brachte Wessenberg mit seinen „Neuerungen“ den in Luzern residierenden Schweizer Nuntius Fabrizio Sceberras Testaferrata (1758-1843, Nuntius in Luzern 1803-1816) gegen sich auf, der ihn deshalb jahrelang systematisch als Zerstörer des Glaubens und der kirchlichen Ordnung verleumdete und schließlich durch sein unaufhörliches „Ceterum censeo“ 1814 Wessenbergs päpstliche Verurteilung und Absetzung als Generalvikar durchzusetzen wusste26, mit der Konsequenz völliger Diskreditierung des Wirkens und Andenkens Wessenbergs und Dalbergs bis an die Schwelle zum Zweiten Vatikanum.27
2. Wessenbergs gesamtdeutsche Kirchenpläne auf dem Wiener Kongress
Wessenberg war kein Mann der Politik; er entzog sich deshalb 1805 auch Dalbergs Angebot, ihn in sein Metropolitankapitel zu berufen und für seine Nachfolge in Aussicht zu nehmen.28 Aber er war gleichwohl ein eminent politisch denkender Mensch, der die politischen und kirchlichen Umbrüche seiner von den napoleonischen Kriegen erschütterten Zeit und ihre Folgen sehr realistisch einschätzte, wie etwa seine Denkschrift „Über die Folgen der Säkularisationen“ von 180129 oder seine Aufzeichnungen über seine Teilnahme als Begleiter Dalbergs an dem von Napoleon inszenierten Pariser Nationalkonzil 1811 belegen.30 Drei Jahre später (1814) wurde Napoleon gestürzt, und Dalberg verlor seine Stellung als Fürstprimas des Rheinbunds und seine weltliche Herrschaft.31 Er hatte sich seit dem Untergang der Reichskirche in der Säkularisation von 1803 wie kein anderer unermüdlich, in mehreren Anläufen, ungeachtet aller Widerstände und Demütigungen, um einen Neuaufbau der Kirche Deutschlands auf der Grundlage eines Konkordats mit dem Papst bemüht, seit der napoleonischen Gründung des Rheinbunds und dem Ende des Reiches 1806 auch in Anklammerung an Napoleon, den er (wie nicht wenige seiner Zeitgenossen) bewunderte und von dem er sich am ehesten noch wirkmächtige Unterstützung erhoffte. Aber mit allen seinen Bemühungen war er gescheitert. Der Kaiser in Wien hatte ihn 1803/04 im Stich gelassen, Napoleon hatte ihn mit leeren Versprechungen hingehalten, und bei Papst und Römischer Kurie war er mit seinen Kirchenplänen auf entschiedenen Widerstand gestoßen, weil er nämlich eine alle Staaten auf ehemaligem Reichsboden umfassende geeinte deutsche Kirche mit primatialer Spitze anstrebte, was man ihm in Rom als Hybris, Papst in Deutschland sein zu wollen, und somit als Häresie auslegte.32 Dalberg