In den beigegebenen Überlegungen wird der Vorschlag einer primatialen Verfassung mit der Notwendigkeit begründet, der deutschen Kirche „Einheit und Zusammenhang“ zu geben als Grundvoraussetzung, damit sie „die ihr zur nützlichen Würksamkeit nöthige Selbständigkeit und Würde erlangen“, „den Anmassungen der Römischen Kurie hinreichenden Widerstand leisten“ (Wessenberg unterschied mit Grund zwischen Papst und Kurie) und so „im Stande seyn“ könne, „eine reine Disziplin zu handhaben, und gemeinsames Fortschreiten in der wahren Bildung der Völker zu befördern“53. Dagegen würde eine „Kirchen-Einrichtung durch Privat Konkordate“ zwischen den einzelnen deutschen Höfen und Rom die erwünschte „Gleichförmigkeit“ solcher Einrichtung behindern und „dem Römischen Hofe die größte Leichtigkeit verschaffen, das Divide et impera zu spielen“54. „Ohne Primas, der das Band der Einheit in dem deutschen Episkopat befestige, die Relationen der Bischöfe mit Rom unterstütze, … und nach Erforderniß ihre Gerechtsame vertheidige, wäre die deutsche Kirche in jeder Hinsicht in einer ungünstigern Lage, als die Kirche[n] jeder andern Nation …. Sie würde keinem Angriff auf ihre Verfassung und Rechte, er möchte von Staatsbehörden oder von Römischen Kurialisten geschehen, lange würksame Gegenwehr zu leisten vermögen. Die Nachgiebigkeit und Schwäche des Einzelnen würde den Nachtheil des Ganzen nach sich ziehen“55. Zudem würde, wenn der Primas die Informativprozesse über neu gewählte Bischöfe führte, eine ungebührliche Verzögerung der Besetzung vakanter Bischofsstühle durch Rom „aus Gründen, die der Religion und der wesentlichen Kirchenverfassung fremde sind“, verhindert, da in solchen Fällen der Primas einem für fähig und würdig erkannten Kandidaten „nach Verfluß des kanonischen Termins [d.h. nach sechs Monaten], die kanonische Bestätigung zu erteilen habe“, entsprechend den Verordnungen der frühesten Konzilien und „der Praxis der zwölf ersten Jahrhunderte des Christenthums“56, wie Wessenberg hier allerdings gut gallikanisch oder febronianisch57 argumentierte. Doch Wessenbergs (und gleicherweise Dalbergs) febronianisch (oder episkopalistisch) geprägte Auffassung vom Verhältnis des Episkopats zum Papsttum war damals nördlich der Alpen vorherrschende Lehre der Theologen und Kanonisten.58
Die Dotation der Bischofsstühle, Domkapitel und zentralen Diözesaneinrichtungen durch liegende Güter unter kirchlicher Selbstverwaltung (als unabdingbare Ersatzleistung der Säkularisationsgewinnler) erschien Wessenberg nach den Erfahrungen seit 1803 notwendige Voraussetzung unabhängigen kirchlichen Wirkens. „Der Beruf des geistlichen Standes“, der „ein anderes Reich, als das irdische … zum Ziele seiner Bestrebungen“ habe, fordere „eine freye, unabhängige Seele“, weshalb es nicht gut wäre, seine Subsistenz „von der Willkühr des weltlichen Armes“ abhängig zu machen, was aber „mit Besoldungen verbunden“ sein würde.59 Des weiteren plädierte Wessenberg dafür, dass Bischof und Domkapitel als „Gutbesitzer“ auch Mitglied der Landstände sein sollten, um „dadurch in das gemeinsame Interesse des Vaterlands verflochten [zu] werden, und an den Vortheilen und Lasten der Staatsverwaltung unmittelbaren Antheil [zu] nehmen“60. In einer „ansehnliche[n] Ausstattung“ der kirchlichen Anstalten sah er nicht zuletzt auch einen Gewinn der deutschen Staaten, da „die ächte Grundbildung des Volkes … vorzüglich von der Beschaffenheit dieser Anstalten“ abhänge, denn: „Rohe und unwissende Seelsorger sind die ärgste Landplage. Ausserdem daß sie unfähig sind, zur bessern Bildung des Volkes beizutragen, sind sie noch das stärkste Hinderniß derselben“61.
Wessenbergs Entwurf strafte alle Lügen, die ihm Staatshörigkeit und Auslieferung der Kirche an den Staat unterstellten. Jedoch lag ihm daran, dass zwischen den beiden Institutionen Kirche und Staat, „wovon die eine die innere sittlich religiöse Ordnung, die andere aber die äussere, polizeiliche und rechtliche Ordnung zum Zwecke hat, … freundliches Einvernehmen“ herrsche und beide „sich zur Förderung alles dessen, was die Wohlfahrt der Völker verlangt, die Hände biethen“62. Dagegen sah er den Sinn eines Konkordats nicht darin, dass sich die Kirche in ihm einseitig ihre privilegierte Stellung verbriefen lasse und dem Staat die dazu erforderlichen finanziellen Lasten aufbürde, sondern dass in ihm beide Institutionen zu einem Ausgleich ihrer gegenseitigen gerechten Ansprüche gelangen, zum Wohl der Menschen, zur Beförderung ihres „Glücks“ (um es „aufgeklärt“ zu formulieren).63
Doch die Kirchenfrage spielte auf dem Wiener Kongress eine untergeordnete Rolle. Bereits erste Anläufe zu einer Ausdehnung der Bundeskompetenz auf die kirchlichen Angelegenheiten stießen auf den entschiedenen Widerspruch vor allem der königlich-bayerischen Regierung, die mit allen Mitteln die konkordatäre Gründung einer Landeskirche unter ihrer Kuratel anstrebte.64 Schließlich wurde die Kirchenfrage auf die in Frankfurt anberaumte erste Bundesversammlung vertagt. Wessenberg suchte die Zwischenzeit für intensive Verhandlungen mit den einzelnen deutschen Höfen zu nützen. Aber als diese Versammlung mit einjähriger Verspätung Anfang November 1816 endlich stattfand, war die Kirchenfrage obsolet geworden. Sie kam dort gar nicht mehr auf die Tagesordnung. Die einzelnen Bundesstaaten hatten sich nach dem Beispiel Bayerns für Partikularverträge mit Rom entschieden, und die Römische Kurie schwenkte entsprechend diesen Wünschen auf separate Vertragsverhandlungen mit den einzelnen deutschen Staaten ein.65 In Rom trauerte man dem Untergang der allzu selbstbewussten Reichskirche keineswegs nach, vielmehr ergriff man dort diese Zäsur nunmehr als willkommene Gelegenheit mit dem erklärten Ziel, die vertragliche Neuorganisation der Kirchen in den deutschen Ländern einseitig als Akt päpstlicher Vollgewalt darzustellen und damit endlich die römischkanonistische