Wessenberg indes warb auch nach dem Abschluss des Bayerischen („Privat“-)Konkordats nochmals für seine Idee, in der Hoffnung, die übrigen deutschen Mittelstaaten doch noch für eine Vereinigung ihrer Bistümer unter einem gemeinsamen Erzbischof gewinnen zu können (mögen auch Österreich, Preußen und Bayern „mit allem Grund für ihre Bistümer eigene Erzbischöfe verlangen“). 1818 trat er zu diesem Zweck erneut mit einer umfänglichen, auf zahlreiche Quellen- und Literaturbelege in den Anmerkungen gestützten Denkschrift an die Öffentlichkeit: „Betrachtungen über die Verhältnisse der Katholischen Kirche im Umfange des Deutschen Bundes“66. Dieser gemeinsame Erzbischof – so argumentierte er hier – könnte „zugleich die Stelle des deutschen Primas bekleiden“, dessen „Verhältniß … rein kirchlich“ wäre, der deshalb „in Zukunft in politischer Hinsicht keinem Staat eine Besorgniß einflößen“ müsste; denn der Primas „wäre nichts, als der Mittelpunkt der Nationalkirche“, deren Vereinigung „bloß moralisch“ sein und „auf Uebereinstimmung der Grundsätze“ beruhen würde, „welche unter die Aegide der Landesverfassungen und unter dem Schutz aller deutschen Souveräne gestellt sind“: „Im Innern der deutschen Staaten gewährt eine solche Vereinigung Beruhigung, und im Verhältniß mit dem römischen Hofe sichert sie den deutschen Bisthümern die Rechte und Freyheiten, welche die gesunden Grundsätze des Kirchenrechts verlangen, und deren Handhabung in dem Interesse jedes Staats gelegen ist“67.
Trotz sehr bedenkenswerter (bis heute aktueller) Vorschläge im Einzelnen blieb auch dieser Aufruf bei den Mittelstaaten ohne Echo, wenngleich manche dieser Vorschläge von den angesprochenen Regierungen aufgenommen wurden, in ihre Verträge mit Rom einflossen und in die Praxis umgesetzt wurden. Dennoch fiel die Idee einer primatialen Verfassung der Kirche in Deutschland nicht völliger Vergessenheit anheim. Als nämlich nach der Revolution von 1848 die fürstlichen Kabinette den Kirchen mehr Bewegungsfreiheit einräumen mussten und die sogleich allerorten aus dem Boden schießenden „Piusvereine“ sich noch im selben Jahr in Mainz zum ersten deutschen „Katholikentag“ vereinigten, ergriff der Kölner Erzbischof Johannes von Geissel (1845-1864) die Initiative zur Einberufung einer Bischofskonferenz, die sich schließlich im Oktober 1848 in Würzburg versammelte, während im Frankfurter Parlament die Debatten über die Reichsverfassung und die Kirchenfrage in vollem Gange waren. Auf dieser ersten deutschen Bischofskonferenz unter Erzbischof Geissels Vorsitz brachte der Münchner Kirchenhistoriker Ignaz Döllinger (1799-1890) als maßgeblicher Konferenzberater in einem großangelegten Referat die Idee einer deutschen „Nationalkirche“ mit einem Primas an der Spitze und die Einberufung einer deutschen Nationalsynode in die Diskussion ein. Freilich wollte er, damals noch „ultramontan“ gesinnt, seine Idee, um Missverständnissen zumal an der nationalkirchlichen Bestrebungen zuinnerst abgeneigten Römischen Kurie vorzubeugen, gänzlich anders verstanden wissen als Febronius und Wessenberg: „Die so geordnete deutsche Kirche“ – so führte er aus – „würde, weit entfernt, die Einwirkung des Apostolischen Stuhles auf die deutschen kirchlichen Zustände zu schwächen oder zu beschränken, dieselbe vielmehr erleichtern, in eine engere, festere und regelmäßigere Verbindung mit dem allgemeinen Centrum unitatis treten, als dies bei dem gegenwärtigen Zustand der Zersplitterung und Vereinzelung geschehen kann.“ Doch die Mehrheit der Konferenzteilnehmer wagte nicht, dem Gedanken einer Nationalkirche durch Beschlussfassung näherzutreten. Döllinger musste einsehen: „Die Nationalkirche ist für diesmal durchgefallen.“ Aber die Konferenz beschloss einstimmig, in Rom um die Genehmigung einer Nationalsynode nachzusuchen, und Döllinger mag mit diesem Beschluss die Hoffnung verbunden haben, auf dieser Synode seine Idee erneut einbringen und möglicherweise auch durchsetzen zu können. Seine (vermutliche) Hoffnung trog. Papst und Kurie hüllten sich zunächst in Schweigen, was auch mit der Flucht des Papstes vor der Revolution in Rom nach Gaëta zusammenhängen mochte. Erst mit Breve vom 17. Mai 1849, mit halbjähriger Verzögerung, erging die Antwort Pius’ IX. (1846-1878), und zwar pikanterweise nicht an den Konferenzvorsitzenden Erzbischof Geissel, sondern an den Salzburger Erzbischof (und Primas Germaniae) Friedrich von Schwarzenberg, und sie lautete negativ.68 Seitdem hüteten sich die deutschen Bischöfe, die Frage einer Nationalsynode, geschweige denn einer primatial verfassten deutschen Kirche, je wieder aufzugreifen.
1 J. Beck, Freiherr I[gnaz]. Heinrich v[on]. Wessenberg. Sein Leben und Wirken. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der neuern Zeit. Auf der Grundlage handschriftlicher Aufzeichnungen Wessenbergs, Freiburg 1862; K.-H. Braun, Die Causa Wessenberg, in: ders. (Hg.), Kirche und Aufklärung- Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) (Schriftenreihe der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg), München-Zürich 1989, 28-59; F. X. Bischof, Das Ende des Bistums Konstanz. Hochstift und Bistum Konstanz im Spannungsfeld von Säkularisation und Suppression (1802/03-1821/27) (MKHS 1), Stuttgart 1989 (grundlegende Untersuchung); M. Bangert, Bild und Glaube. Ästhetik und Spiritualität bei Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860) (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 11), Fribourg-Stuttgart 2009; B. Stark (Hg.), Ignaz Heinrich von Wessenberg 1774-1860. Kirchenfürst und Kunstfreund, Konstanz 2010. – M. Weitlauff, Zwischen Katholischer Aufklärung und kirchlicher Restauration. Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), der letzte Generalvikar und Verweser des Bistums Konstanz, in: RJBKG 8 (1989) 111-132; ders., Ignaz Heinrich von Wessenbergs Bemühungen um eine zeitgemäße Priesterbildung. Aufgezeigt an seiner Korrespondenz mit dem Luzerner Stadtpfarrer und Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller, in: ders. / Hausberger, K. (Hg.), Papsttum und Kirchenreform. Historische Beiträge. Festschrift für Georg Schwaiger zum 65. Geburtstag, St. Ottilien 1990, 585-651; ders., Dalberg als Bischof von Konstanz und sein Konstanzer Generalvikar Ignaz Heinrich von Wessenberg, in: K. Hausberger, Carl von Dalberg. Der letzte geistliche Reichsfürst (SRUR 22), Regensburg 1995, 35-58; ders., Ignaz Heinrich von Wessenberg (1774-1860), Domherr von Konstanz und Augsburg, Generalvikar des Bistums Konstanz. Kirchlicher Reformer und Kirchenpolitiker zwischen Säkularisation und Neuorganisation der Kirche Deutschlands. Mit einem Quellen- und Dokumentenanhang. Zum 150. Todestag, in: Jahrbuch des Vereins für Augsburger Bistumsgeschichte 44 (2010), Band I, 1-335 (zum Folgenden siehe diese Darstellung). - Ignaz Heinrich von Wessenberg, Unveröffentlichte Manuskripte und Briefe. Herausgegeben von Kurt Aland und Wolfgang Müller. I/1: Autobiographische Aufzeichnungen. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1968; II: Die Briefe Johann Philipps von Wessenberg an seinen Bruder. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1987; III: Kleinere Schriften. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1979; IV: Reisetagebücher. Herausgegeben von Kurt Aland, Freiburg-Basel-Wien 1970; R. Herzog / O. Pfyl (Bearb.), Der Briefwechsel 1806-1848 zwischen Ignaz Heinrich von Wessenberg und Heinrich Zschokke (Quellen zur Schweizer Geschichte. Neue Folge. III. Abt.: Briefe und Denkwürdigkeiten X), Basel 1990; M. Weitlauff / M. Ries (Bearb.), Ignaz Heinrich Reichsfreiherr von Wessenberg. Briefwechsel mit dem Luzerner Stadtpfarrer und Bischöflichen Kommissar Thaddäus Müller in den Jahren 1801 bis 1821, 2 Teile (Quellen zur Schweizer Geschichte. Neue Folge. III. Abt.: Briefe und Denkwürdigkeiten XI), Basel 1994. – K. Aland, Wessenberg-Studien (I), in: ZGO 95 (1943) 550-620; Wessenberg-Studien II: Wessenberg und die Konstanzer Rettungsanstalt. Ebd. 96 (1948)