Die Männer schildern häufig das Gefühl von Ohnmacht: Sie hätten gerne ihrer Partnerin etwas abgenommen – z.B. die Schmerzen. Sie hätten am liebsten alles rückgängig gemacht. Das Kind gerettet. Sie kämpfen mit dem ärztlichen oder pflegerischen Personal oder mit der Krankenkasse, mit… und müssen doch erleben, dass es nicht in ihrer Macht steht, das Kind und ihre Frau zu retten.
2.7 Wann ist ein Kind ein Kind?
Die Frage, wann ein Kind ein Kind ist, stellt sich in einer solchen Situation in besonderem Maße. Diese Frage wird unterschiedlich bewertet. Die Mütter und Väter, die in den Trauergesprächen auftauchen, sprechen ganz klar von ihren Kindern. Sie geben ihnen Namen. Sie sagen, dass sie ab dem Zeitpunkt, als sie das Herz schlagen sahen, sich als Mutter und Vater dieses Kindes verstanden haben. Andere sehen diese Kinder als menschliches Material an. So sagte mir ein Arzt angriffslustig einmal, dass ich ja Zehennägel bestatten würde26.
Auch in den Reaktionen der Umwelt kommt etwas von der Ansicht zutage, diese Kinder seien ja noch gar keine Kinder gewesen. „War ja noch nichts“ – ist hier die häufigste Aussage, die deutlich macht, welchen Stellenwert diese Kinder hatten.
Auf der Grabstele des Regenbogenvereins Göttingen auf dem Grabfeld St. Petri/Weende steht „ein Hauch von Leben – unvergessen“. Selbst diese Definition der Kinder als „Hauch von Leben“ verletzt Frauen, die unter körperlichen und seelischen Schmerzen ihr geliebtes Kind auf die Welt bringen mussten, obwohl sie nichts als das Leben für dieses Kind wollten.
Auch der Gebrauch der Wörter „es war eine Totgeburt“27 oder aber „es war eine Fehlgeburt“28 sprechen ebenfalls nicht davon, dass es ein Kind war, das den Weg zum Leben nicht gefunden hat. Sie sprechen von einer Sache, wie einem Organ, und von einem Fehler. Doch diese Kinder waren keine Fehler.
In der Bewertung dessen, wie mit totgeborenen Kinder umgegangen werden soll, hat sich auch die Politik verändert29, sodass es inzwischen eine Bestattungsmöglichkeit für diese Kinder gibt. Selbst das war lange Zeit nicht geregelt. Torsten Barthel, der den Verband der Friedhofsverwalter Deutschlands als Rechtsanwalt berät30, schreibt noch 2012 in der juristischen Online–Fachzeitschrift Jurion31:
„Bislang fanden betroffene Eltern bei Totgeburten mit einem Gewicht unter 500 Gramm nur manchmal einen aufnahmebereiten Friedhof. Immerhin enthalten einige der 16 Friedhofs– und Bestattungsgesetze (BestattG) der Länder Regelungen wie in Niedersachsen, wonach ‚auf Verlangen der Eltern ein Tot–oder Fehlgeborenes zur Bestattung auf dem Friedhof zuzulassen ist’ (§ 8 Abs. 1 Satz 2 Nds. BestattG).“
Die Bestattung erfolgte
„zumeist in einem Kindersammelgrab, wo die Kinder vierteljährlich gesammelt, gemeinsam verbrannt und in einer Urne bestattet werden. Manche Länder machen die Bestattung sogar gänzlich vom Goodwill des Friedhofsträgers abhängig. Bittere Konsequenz: Das tote Kind ist organischer Abfall, Krankenhausmüll, der ordnungsgemäß entsprechend der Hygienevorschriften entsorgt werden muss. Entsorgung bedeutet in der Regel Verbrennung zusammen mit herausoperierten Blinddärmen oder Geschwüren oder Zuführung der Asche zum Sondermüll.
Diese Praxis hatte ihre Wurzel in der Regelung des § 31 Abs. 3 PStV in seiner bisherigen Fassung. Danach gilt: Wenn das Gewicht der Leibesfrucht weniger als 500 Gramm beträgt, handelt es sich um eine Fehlgeburt. Sie wird in den Personenstandsregistern nicht beurkundet, wenn sie ohne Merkmale des Lebens wie Herzschlag, Nabelschnurpulsation oder Lungenatmung und kein Teil einer Mehrlingsgeburt war. Was aber nicht personenstandsrechtlich beurkundet wird, hat als Mensch nicht existiert, ist also keine ‚Leiche’ und damit eben nicht bestattungspflichtig.
Dabei wird die ehrfurchtvolle Behandlung menschlicher Überreste durch Pietät, Sitte und religiöse Anschauung bestimmt. Bereits die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zum Schwangerschaftsabbruch enthält wesentliche Aussagen zum sittlichen Empfinden unseres Kulturkreises. Danach beginnt die Menschenwürde spätestens mit der Nidation (Einnistung) der Eizelle (Urt. v. 25.02.1975, Az. 1 BvF 1/74, 1 BvF 2/74, 1 BvF 3/74, 1 BvF4/74, 1 BvF 5/74, 1 BvF 6/74). Somit besitzt auch ein Fehlgeborenes Menschenwürde und kann das sogenannte postmortale Persönlichkeitsrecht beanspruchen“32.
Der Deutsche Bundestag hat dann2013 einstimmig das Personenstandsrechtsänderungsgesetz (PStRÄndG) beschlossen33:
„Das Gesetz gibt Eltern von so genannten ‚Sternenkindern’ – also Kindern, die mit unter 500 Gramm tot geboren wurden – erstmals die Möglichkeit, die Geburt beim Standesamt dauerhaft dokumentieren zu lassen und ihrem Kind damit offiziell eine Existenz zu geben. Bisher war eine solche Beurkundung nicht möglich.
Die Bundesministerin für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, Dr. Kristina Schröder: ‚Die Änderung des Personenstandsrechts zugunsten der vielen Mütter und Väter eines so genannten >Sternenkindes< ist nicht nur rechtlich und familienpolitisch notwendig, sondern vor allem eine Frage der Menschlichkeit. Eltern, die mit einer Fehlgeburt einen schweren Schicksalsschlag erlitten hatten, mussten bisher auch noch hinnehmen, dass ihr totes Kind behandelt wird, als hätte es nie existiert. Ich bin sehr froh, dass wir jetzt eine Regelung finden konnten, die endlich einen würdigen Umgang ermöglicht mit diesen >Sternenkindern<, wie viele Eltern sie nennen. Die Neuregelung sieht vor, dass Eltern ihr totes Kind beim Standesamt namentlich anmelden können. Sie können ihm damit offiziell eine Existenz geben und erhalten einen Raum, um Abschied zu nehmen und als Familien wahrgenommen zu werden. Mir war es wichtig, dass die neue Regelung rückwirkend auch für Mütter und Väter gilt, die diesen schweren Schicksalsschlag bereits erleiden mussten.’
Aus diesem Anlass traf sich Bundesfamilienministerin Kristina Schröder [… ] mit den Eheleuten Martin, mit deren Schicksal und ganz persönlichem Einsatz dieser neue Umgang mit den so genannten ‚Sternenkindern’ besonders eng verbunden ist.“34
Die Initiative von vielen – von Ärzt/inn/en, Eltern und Kirchen und Politiker/inne/n – hat dazu beigetragen, dass es jetzt in Deutschland eine offizielle Regelung gibt, die eine adäquate Begleitung von trauernden Eltern und auch die Bestattung dieser Kinder ermöglicht.
Auch die kirchliche Sicht darauf, ab wann ein Kind ein Kind ist, hat sich im Laufe der Zeit entwickelt und verändert35. Heute ist es für die offizielle katholische Lehre klar, dass ab Befruchtung der Eizelle ein Kind ein Kind ist:
„Das menschliche Leben ist vom Augenblick der Empfängnis an absolut zu achten und zu schützen. Schon im ersten Augenblick seines Daseins sind dem menschlichen Wesen die Rechte der Person zuzuerkennen, darunter das unverletzliche Recht jedes unschuldigen Wesens auf das Leben.“36
Kirchliche und medizinische Einrichtungen reagierten in der Vergangenheit avantgardistisch auf Sorgen, Nöte und die Liebe von Eltern und Großeltern. So entstanden z.B. die Bestattungsmöglichkeit für totgeborene Kinder unter 500 g in Göttingen durch die Initiative einer katholischen Pfarrgemeinde, der evangelisch–lutherischen Kirchengemeinde St. Petri/Weende und eines Chefarztes einer gynäkologischen Abteilung des katholischen Krankenhauses in Göttingen als Reaktion auf die Frage eines Großvaters, wo denn jetzt sein Enkel bestattet werden würde. So haben sich das Weinen und die Trauer von Menschen mit dem Handeln der Kirche verbunden. Es ist ein Ort entstanden, in dem die Themen Gotteskindschaft und Wert eines jeden Menschen bei Gott konkret erfahrbar werden.
Die Frage nach dem Beginn des Menschseins wird von den betroffenen Müttern zumeist klar beantwortet, in dem diese Eltern von ihren Kindern sprechen. Denn die Frage, was es ist, was da in ihrem Leib heranwächst, ob es schon Leben ist, ob es ein Mensch ist, ob es ein eigenständiger Mensch ist, oder er das erst durch seine Geburt wird, sind Fragen, die diese Frauen einfach damit beantworten, dass sie ihren Kindern Namen geben, dass sie mit ihnen sprechen, dass sie für sie einzigartige Personen sind, die es so nie wiedergeben wird. Der Moment der Menschwerdung, den die meisten Frauen benennen, ist der Moment, wenn sie den Herzschlag auf dem Monitor des Ultraschallgerätes sehen.
Der Moment der Menschwerdung wird sehr unterschiedlich beurteilt: Zwischen