Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Annette Stechmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annette Stechmann
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429064051
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Samenzelle benennt, besteht eine maximale Spannweite. Mütter sind mit ihrer Wahrnehmung des Lebensbeginns, wenn sie das Herz auf dem Ultraschallbild schlagen sehen38, relativ nahe an der Überzeugung der katholischen Kirche.

      Ein Konfliktpunkt bei den Bestattungen ist immer wieder, ob die christlichen Akteure im Flyer, der auf die Bestattungen aufmerksam machen soll, benannt werden sollen oder nicht. Mitarbeiterinnen von Regenbogen39, dem Verein der die Bestattungen der Kinder unter 500g Geburtsgewicht in Göttingen organisiert, haben darauf hingewiesen, dass viele Mütter und Väter zwar eine Bestattung möchten oder eine „Gedenkfeier“40, dass sie aber durch die Mitarbeit christlicher Institutionen von der Teilnahme an der Bestattung abgeschreckt werden könnten.

      Dieser Konfliktpunkt ist ein echter, denn während die Menschen meistens nicht mehr christlich geprägt sind, bzw. eine bestimmte Form von Kirchlichkeit ablehnen und hier keinen Trost mehr erwarten, gibt es auf der anderen Seite ein echtes Engagement seitens der Kirchen für diese Menschen. So besteht seit dem II. Vatikanum die Möglichkeit der Bestattung ungetaufter Kinder41. Es gibt die evangelisch–lutherische Kirchengemeinde St. Petri, die ihren Friedhof für diese Bestattungen kostenlos zur Verfügung stellt und die Klinikseelsorge der Universitätsmedizin Göttingen, die sich hier seit Jahren hilfreich eingebracht hat. Die Gefahr gekränkter Kirchlichkeit ist natürlich gegeben, wenn Kirche zwar die Bestattungen macht, aber in den Flyern nicht auftauchen soll, aber eigentlich geht es um eine andere Frage: Wie ist es möglich, Eltern so beizustehen, dass es ihnen hilft, dass es sie tröstet – und zwar ohne auf der eigenen Position als Machtort zu beharren? Gibt es nicht doch einen Mehrwert des Christlichen, der diese Eltern auf ihrem Trauerweg unterstützen kann?

      Wie geht es, in dieser Welt heute in Norddeutschland als Kirche aufzutreten? Das Beharren auf alten Bastionen ist eine Möglichkeit, die sich bei genauerem Nachdenken verbietet. Sollten wir uns dann verstecken? Uns nicht mehr öffentlich als Christ/inn/en bekennen und nur noch unsere seelsorglichen Fähigkeiten, die alle gesprächspsychologisch geschult sind, zur Verfügung stellen, obwohl wir wissen, dass reine Gesprächspsychologie nicht ausreicht? Sollten wir uns in der Öffentlichkeit gleich ganz abschaffen, weil nur noch das „Produkt light“ geht, aber nicht mehr der Habitus oder gar der Inhalt unserer Sendung? Geht es hier vielleicht sogar um noch mehr? Soll an dieser Stelle nicht mehr von Gott geredet werden? Sollen wir von ihm schweigen? Von ihm, den wir sowieso nicht in den Händen haben? Vor dem Menschen Angst haben, weil sie der Auffassung sind, dass er ihnen das Kind genommen hat? Sollten wir einfach die ganze christliche Theologie sein lassen in unserer säkularisierten Welt, statt immer noch darauf zu beharren, dass wir etwas zu sagen hätten von unserem Gott, von dem wir aber selbst angesichts des Unglücks, das diese Menschen übermächtigt hat, verstummen? Sollten wir nicht gleich mit Gott verstummen?

      Sowohl das Verstummen als auch die Gesprächspsychologie helfen nicht ausreichend weiter. Deshalb frage ich mich: Wie komme ich in einer Welt, die sich selbst als säkular im Sinne von Taylor42 versteht, zu Wort: Was sind die Bedingungen der Möglichkeit für Theologie und Kirche? Und wie habe ich darin umzugehen?43

      Die Pränataldiagnostik macht es heute möglich, schon im Mutterleib zu erkennen, ob ein Kind krank ist oder nicht, ob es behindert ist oder nicht. Inzwischen gibt es sogar die Möglichkeiten von Operationen im Mutterleib. Pränataldiagnostik gibt so Einblicke in die Schwangerschaft, sie macht den Mutterleib „gläsern“44 und fordert zu Entscheidungen heraus, die früher einfach nicht zu treffen waren. Wenn man nichts weiß, braucht man auch nicht zu entscheiden.

      Es gibt Behinderungen, mit denen ein Mensch leben kann, sogar gut leben kann. Aber es gibt auch Behinderungen, die so stark sind, dass klar ist, dass das Kind nur kurze Zeit leben wird. Darüber hinaus gibt es Abweichungen vom „Normmaß des Menschen“, das in einer Gesellschaft des Designs von Frauen verlangt, ein „perfektes Kind“ bzw. ein „Kind nach Maß“45 hervorzubringen.

      Es gibt die Bestrebung in Kliniken, Schwangerschaften, bei denen die Entscheidung für eine Abtreibung gefallen ist, möglichst schnell zu beenden, um dem Kind bei der Abtreibung Schmerzen zu ersparen46, um die Eltern nicht länger zu zwingen, ein Kind auszutragen, das – nach gängiger Meinung – sowieso nicht am Leben bleiben sollte oder ein Kind auszutragen, das mit der Geburt zum Sterben verurteilt ist.

      Hier wird vergessen, dass diese kleinen Wesen erwünschte, geliebte Kinder sind. Hier wird vergessen, dass es vielleicht auch noch andere Möglichkeiten des Umgangs mit diesen kleinen Menschen gibt, die evtl. nicht lebensfähig sind, dass z.B. Palliative Care für Ungeborene und ihre Familien eine Möglichkeit wäre, den Sterbeprozess nicht aufzuhalten, aber eben auch nicht zu beschleunigen. Diese Möglichkeiten würden bedeuten, den wenigen Tagen, die es gibt, mehr Leben zu geben – so wie es Cicely Saunders für die Begleitung Schwerstkranker und Sterbender formuliert hat: „Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben.“47

      Eltern leiden darunter, dass sie in einer solch prekären Situation, in der es wenige Maßstäbe gibt, die ihnen in solchen Entscheidungssituationen Hilfe anbieten, entscheiden müssen, was mit ihrem Kind geschehen soll. Wonach sollen sie sich richten? Die meisten Menschen, die ich kennengelernt habe, haben sich die Entscheidung nicht leichtgemacht. Sie wussten, dass es sich um ein Kind handelt, um ihr Kind. Entsprechend groß ist die Trauer. Die Frage wird laut: „Wieso ist mein Kind krank gewesen?“ – und die Schuldfrage wird natürlich auch gestellt. Aber all das hilft nicht, wenn eine Entscheidung gefällt werden muss. Die meisten Menschen entscheiden sich – theologisch interpretiert – nach dem Prinzip „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Sie entscheiden sich aus Liebe zu ihrem Kind für einen späten Abbruch: „Damit es nicht so leiden muss“, damit ihm ein Ersticken erspart bleibt usw. Der Abbruch kann aber auch begründet sein in der je eigenen Person von Mutter oder Vater. Sie entscheiden sich auch für sich: „Ich traue mir das nicht zu“.

      Was fehlt, ist das tröstende, erlösende Wort, das ich diesen Eltern als Christin sagen kann. Es ist die Frage nach dem Weg zwischen den beiden Straßengräben des Fundamentalismus und der Aufgabe jeglichen christlichen Standpunktes.

      Welche Worte, welche christlichen Worte sind diesen Menschen zu sagen? Gibt es nicht etwas, dass das Christentum an dieser Stelle hilfreich den Eltern sagen könnte – neben der Haltung, die die humanistische Gesprächspsychologie zu Recht postuliert? Wie kann ein Qualitätskriterium christlicher Gottesrede aussehen, das den Eltern mehr hilft als alle wohlmeinenden, authentischen, respektierenden Worte? Gibt es so etwas wie ein Disclosure–Erlebnis durch christliche Aussagen?

      Etwas, das Eltern in ihrer Trauer ernst nimmt und trotzdem den Himmel in dieser Situation aufschließt?

      Die Theorie von Carl Rogers (vgl. 2.4) ist sicherlich die Basis für seelsorgliche Gespräche in Bezug auf Verbalisierung der Empathie, der Authentizität und dem Respekt vor dem anderen – auch für Gespräche mit Frauen, deren Kinder gestorben sind. Auch bei unseren Trauergesprächen versuchen wir, authentisch aufzutreten, den Frauen Raum zu geben. Es ist unser Ziel, ihnen zu ermöglichen, das, was ihnen geschehen ist, zu verbalisieren – ihre Trauer, ihre Hoffnung, ihre Wut. Auch in der Verkündigung während der Bestattung achten wir darauf, dass, obwohl meistens wir selbst reden, die Frauen selbst vorkommen können, indem wir Wortfetzen aufnehmen oder zusammenfassend schildern, was ihnen geschehen ist. So haben sie auch im Gottesdienst einen Platz.

      Schon allein durch diese Art der Verkündigung wird etwas von einem mitgehenden, vorsichtig begleitenden, raumgebenden Gott deutlich. Trotzdem habe ich als katholische Seelsorgerin die Not, den Gottesdienst in der Kapelle (s.o.) zu gestalten. In der Verkündigung prallt aufeinander, was ich oben geschildert habe: Ein christlicher Raum, der den meisten Personen, die zur Bestattung kommen, fremd ist; Menschen in tiefster Trauer, die genau das brauchen, was christliche Seelsorge anbieten kann, aber auch die Frage nach dem Leid dieser Menschen und Gott als Allmächtigen, die Kooperation mit Vereinen, die sich dieser Frauen auch begleitend annehmen, aber nicht religiös verankert sind.