Das Leid von Müttern totgeborener Kinder. Annette Stechmann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annette Stechmann
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429064051
Скачать книгу
Tränen nicht verbergen müssen. Wohl aber kann es auch passieren, dass ich, wenn Eltern z.B. selbst Texte für ihre Kinder geschrieben haben, beim Vortrag dieser Texte ebenfalls beginne zu weinen. Es geht fast nicht, solche Briefe von Eltern an ihre Kinder ohne diese Tränen vorzutragen.

      Als ich angefangen habe, meine Dissertation zu schreiben und die Interviews begonnen habe zu transkribieren, sind mir unendlich viele Tränen gelaufen. Es ist einfach furchtbar traurig, dass ein Kind noch vor der Geburt stirbt. Wie kann das sein? Diese Frage, die ich selbst nicht zufriedenstellend beantworten kann, zeigt Ohnmacht, zeigt das Ringen um diese Kinder, um die Liebe dieser Eltern zu ihren Kindern. Ihre Geschichte macht betroffen, berührt andere Menschen und verletzt sie sogar in ihrem Hoffen und Glauben, dass Gott das Leben will. Was dann übrig bleibt, sind einfach Tränen.

      Ganz am Anfang meiner Tätigkeit in der Klinikseelsorge habe ich immer gedacht, dass ich nicht weinen dürfte, dass es von mir als Seelsorgerin verlangt wäre, die Situation zu halten, „darüber“ zu stehen. Viele Patient/inn/en, aber auch vor allem die Mütter und Väter der verstorbenen Kinder haben mich gelehrt, dass das Mitweinen eine nichtverbale Sprache ist – ein erstes Mittel der Kommunikation, das den Eltern unmittelbar zeigt, dass ich mitfühle, dass ich mit ihnen bin, dass ich mich zutiefst berühren lasse von ihrer Geschichte, von ihrer Trauer um ihre verstorbenen Kinder.

      Das, was Eltern in ihrer Trauer viel mehr verletzt als die mitfühlenden Tränen anderer Menschen, ist Gefühlskälte. Bei einer werdenden Zwillingsmutter hatten die Wehen aufgrund einer bakteriellen Infektion eingesetzt. Nun war die Fruchtblase des einen Kindes geplatzt und der Muttermund war leicht geöffnet. Die Fruchtblase des anderen Kindes allerdings war noch vollkommen intakt, beide Herzen schlugen. In dieser Situation hatte ihnen ein Arzt gesagt: „Machen Sie es weg. Dann können Sie in zwei Tagen schön Weihnachten feiern.“

      Dieser Satz transportiert einerseits die medizinische Realität. Ich bin keine Ärztin, aber mit bloßem Menschenverstand betrachtet ist die Geburt dieser beiden noch lebenden Kinder wohl nicht mehr aufzuhalten gewesen. Die Aussage, „es weg zu machen“, hat diese beiden werdenden Eltern sehr verletzt. „Es“ waren immerhin die beiden Kinder, mit denen dieses Ehepaar nach vielen Jahren erfolglosen Kinderwunsches durch künstliche Befruchtung schwanger geworden war. Sie waren nicht ein „Es“, das man einfach so „wegmachen“ konnte. Es waren zwei Kinder, die wahrscheinlich keine Überlebenschance hatten. Es waren zwei Wunschkinder, erhofft, ersehnt und erbeten vom Schöpfer dieser Welt. Es waren zwei Kinder, von denen sich die Eltern schwersten Herzens verabschieden mussten, die sie loslassen mussten – sie, die sie so sehr ersehnt hatten. Statt den Trauerprozess zu ermöglichen, die Eltern mitfühlend bei dem wohl irreversiblen Geburtsprozess zu unterstützen, erschwerten diese kalten Worte den Eltern die Situation noch. Sie waren unendlich schwer zu ertragen, sagten mir die Eltern mit bleichen Gesichtern und zitternden Lippen. Sie fühlten sich sehr alleine gelassen.

      Solche Reaktionen gibt es aber nicht nur bei Ärzt/inn/en (natürlich gibt es viele, die auch menschlich hervorragende Arbeit leisten, das sei an dieser Stelle gesagt, damit nicht der Eindruck entsteht, Ärzt/inn/en seien gefühlskalte Monster), sondern auch bei Seelsorgenden.

      Ich habe miterlebt, wie eine Pastorin bei einem Gedenkgottesdienst für verstorbene Kinder von den glücklichen Momenten der Geburt ihres eigenen Kindes erzählte: Wie sie ihr Kind erhofft hatte, wie es größer wurde in ihrem Bauch, wie sie es nach glücklicher Geburt auf ihre Brust gelegt bekam, wie wunderschön es war, dieses Kind aufwachsen zu sehen und mit ihm durch den Wald zu tollen. Das verkündete sie als „frohe Botschaft“ Eltern, die manchmal noch nicht einmal einen Körper hatten, den sie hätten beerdigen können, weil das Kind – so klein wie es war – tatsächlich bei einer Blutung verloren gegangen war? Ein größeres Maß an Abkanzlung der Trauer der Eltern kann man sich eigentlich nicht vorstellen. Der Grund mag vielleicht eine zu große Betroffenheit der Pastorin gewesen sein, dass sie dieses furchtbare Schicksal so vieler Eltern emotional nicht ausgehalten hat. Aber ist es ihr erlaubt, als Predigerin, als Verkünderin der Frohen Botschaft, Eltern gegenüber mit einer solchen Gefühlskälte zu agieren? Die Botschaft, die sie verkündet hat, war: „Ich bin glückliche Mutter – und ihr seid es nicht!“ – wo ist da der Trost?

      Weitere kalte Reaktionen sind die Reaktionen von Umstehenden – manche Eltern haben eine „Hitliste“ von verletzenden Bemerkungen gemacht:

      „Es hat eben nicht sollen sein./Nächstes mal (!) klappt es bestimmt. Ach, du wirst doch bestimmt schnell wieder schwanger./Ich hab doch gleich gesagt, wenn man Babysachen zu früh kauft, dass das Unglück bringt./War vielleicht besser so, wer weiß, was für eine Behinderung das Kind gehabt hätte./Bis jetzt war es doch nur ein Zellklumpen./Warum? Was hast du falsch gemacht?/Das passiert so vielen Frauen und die heulen auch nicht./Das Kind sucht sich selbst aus, wo es wohnen will./Übertreib mal nicht mit dem trauern (!)./Ist eine Beerdigung nicht völlig übertrieben?/Du bist keine Mutter, weil das noch kein richtiges Kind war“14.

      Der Tod von Kindern bevor sie geboren worden sind, ist etwas, das Menschen emotional bis ans Äußerste herausgefordert, sodass es zu solchen Reaktionen der Abwertung kommt. Manches ist vielleicht noch nicht einmal böse gemeint, sondern einfach sehr ungeschickt geäußert. Manche Menschen lässt dieser Tod aber vielleicht wirklich kalt. Er bedeutet ihnen nichts, weil ja noch nichts gewesen sei.

      In jedem Fall lässt sich feststellen, dass der Tod von Kindern zu Stellungnahmen herausfordert – sowohl bei Außenstehenden als auch bei den Müttern, Vätern und allen anderen Familienangehörigen.

      Am Anfang meiner Bestattungspraxis habe ich gemerkt, wie mir die Worte im Mund stecken geblieben sind. Was habe ich solchen Frauen zu sagen? Was habe ich ihnen von Gott zu sagen? Dass er mitgeht und tröstet? Dass er die Kinder aufnimmt (so wie häufig das Evangelium von der Aufnahme der Kinder durch Jesus bei Kinderbestattungen gelesen wird)?

      Aber da fängt es schon an, schwierig zu werden: Wer ist dieser Gott, der diese Kinder aufnimmt? Wenn er sagt „lasset die Kinder zu mir kommen“ meint er dann auch, dass er sie so gerne bei sich hat, dass er sie ihren Eltern wegnimmt? Nicht selten habe ich solche Assoziationen von Eltern gehört. Ja, ist er denn verantwortlich für das Sterben dieser wirklich ganz und gar unschuldigen Kinder, die mit dieser Unschuldigkeit auch jeglichen Tun–Ergehens–Zusammenhang zwischen Schuld und Tod aufheben? Ist er schuld an ihrem Tod? Wie kann eine Mutter einem Gott, der schuld ist am Tod ihres Kindes, ihr Kind anvertrauen?

      Sehr schnell stand ich vor dieser Frage, die mich daran gehindert hat, leichtfertig davon zu reden, dass Gott diese Kinder aufnimmt. Aber was kann ich diesen Eltern dann noch sagen? Habe ich ihnen als Theologin überhaupt etwas zu sagen? Natürlich gibt es auch eine persönliche Überzeugung bei mir, die sagt, dass Gott nicht so (punktuell) in die Welt eingreift, dass Allmacht etwas Anderes ist als „Fügung“, dass er doch der Gekreuzigte ist und als solcher ein Mitleidender im Leid dieser Eltern. Aber die Rede davon hat diese Eltern nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie blieben stumm bei den Bestattungen. Sie weinten noch nicht einmal. So verstummte auch ich mit dieser Botschaft von Kreuz und Auferstehung.

      Es stellte sich die Frage, was nun zu tun war. In der Praxis der Bestattungen habe ich mich in der Folgezeit an die Seite dieser Eltern gestellt: Ich habe ihre Wut auf diesen und ihre Angst vor diesem Gott aufgenommen und versucht, sie zu verbalisieren. Ich habe die Eltern Kerzen anzünden lassen: Kerzen ihrer Hoffnung, ihrer Liebe für diese Kinder – und habe sie diese Kerzen zum Sarg in der Kapelle stellen lassen. Ich habe ihnen Raum gegeben, das, was an Trauer, Wut, Hoffnung und Liebe da ist, zu verbalisieren und zu symbolisieren. Dieses Ritual empfanden die Eltern als gut. Sie waren dankbar, dass sie Raum bekommen hatten für das, was sie bewegte.

      Aber was habe ich mit diesem Ritual vom christlichen Gott gesagt? Diese Bestattung war bestimmt „gut“ – und trotzdem ließ mich die Frage nicht los, ob es nicht etwas gibt, was ich als Theologin sagen könnte. Hildegund Keul hat sich mit dem Zerbrechen von Sprache und der schöpferischen Macht der Gottesrede auseinandergesetzt15: „Die christliche Rede von Gott setzt bei solchen Erfahrungen der Sprachlosigkeit an.“16 Ich begann Gottesmetaphern zu suchen, denn ich las bei ihr:

      „Das Versagen von Sprache in Gottesfragen