Die Menschen, die nun aber kommen, sind ganz besondere Menschen. Sie sind alle jung. Es sind Menschen, von denen man annimmt, dass ihnen noch nicht allzu viele liebe Menschen gestorben sein können, weil sie noch so jung sind. Es sind vornehmlich Frauen, häufig auch mit Partner. Manche mit Eltern oder anderen eigenen Kindern. Eine wichtige Besonderheit ist im Unterschied zu anderen Bestattungen, dass alle Teilnehmenden in intensiver Trauer da sind. Bei anderen Trauergemeinden ist der Grad der Trauer bei den Anwesenden nicht immer derselbe. Hier versammeln sich Frauen und Männer, denen nicht etwa Mutter oder Vater, sondern ein eigenes Kind gestorben ist – das eigene Kind, das bereits bei der Geburt tot war. Es sind alles Menschen, die eher selten christliche Räume betreten, denen diese Umgebung vornehmlich fremd ist.
2.2 Mütter – Väter, Geschwister – Großeltern
Diesen Müttern und Vätern begegne ich meistens zwei Mal: Beim Trauergespräch und bei der Bestattung selbst. Zum Trauergespräch kommen die Mütter und auch so mancher Vater, manchmal eine Freundin der Mutter, manchmal eine Großmutter. Die Eltern können dort, wenn sie mögen, ihre Geschichte und die ihres Kindes erzählen. Diese Gelegenheit wird genutzt. Es ist noch nie passiert, dass jemand seine Geschichte nicht erzählt hat. Wohl unterscheiden sich die Inhalte der Schilderungen als auch die Art und Weise, wie erzählt wird. Manche finden Worte, manche kriegen einfach kein Wort über die Lippen (was sie auch nicht müssen) und manche weinen auch einfach und erzählen so ohne Worte die Geschichte ihres Kindes und das unglaublich Schlimme, das ihnen widerfahren ist. Die Geschichten sind unterschiedlich: Da sind Kinder von selbst gestorben und niemand weiß, warum. Da sind Kinder echte Wunschkinder gewesen – und dann gab es die Pränataldiagnostik, die den Eltern offenbart hat, dass ihr Kind zu krank ist, um leben zu können – oder dass das Kind zwar behindert ist, aber eigentlich lebensfähig ist. Eltern erzählen davon, dass sie entscheiden mussten. Dass es keine Möglichkeit gibt, sich nicht zu entscheiden. Wie schwierig solche Entscheidungen sind – und sie erzählen von ihren inneren Kämpfen und von dem, was ihnen geholfen hat, zu einer Entscheidung zu kommen. Ein häufig genannter Grund für eine Abtreibung ist der Zeitdruck, unter dem Entscheidungen getroffen werden „müssen“. Ein weiterer Grund ist das Gefühl, es mit einem behinderten Kind nicht schaffen zu können. Es sei heutzutage sehr ungewöhnlich, ein behindertes Kind auf die Welt zu bringen. Als häufigster Grund wird die Liebe zum Kind genannt: Ihm eine OP nach der anderen in einem sowieso zu kurzen Leben nicht antun zu wollen, zu wissen, dass das Kind nicht lange leben wird und ihm deshalb Qualen zu ersparen. Ein weiterer genannter Grund ist der, dass es sowieso nichts bringt, ein Kind auszutragen, nur damit es sterben kann.
Die Mütter haben körperlich die größte Nähe zu ihren Kindern und sind damit auch emotional stark involviert, wenn diese – egal aus welchem Grund – so früh sterben. Für sie sind es konkrete Kinder13. Manchmal haben sie schon geahnt, dass sie schwanger sind, bevor der Test oder der Frauenarzt dieses bestätigt haben. Sie haben schon in den ersten Wochen der Schwangerschaft große körperliche Veränderungen an sich festgestellt: Müdigkeit, Übelkeit, einen Energiepunkt im unteren Bauch oder Wassereinlagerungen. Viele Frauen haben den Kindern schon im Bauch Namen gegeben: Krümelchen, Pünktchen z.B. oder einen anderen Kosenamen. Sie haben angefangen, sich mit den großen Veränderungen, die ein Kind im Leben bedeutet, auseinanderzusetzen. Sie fühlen sich leer, wenn das Kind nicht mehr in ihrem Bauch ist. Manche von ihnen haben Schuldgefühle. Sie fragen sich, ob sie sich auf die falsche Toilette gesetzt haben, sodass die Bakterien, die zum Tod des Kindes geführt haben, in sie eindringen konnten. Sie fragen sich, ob sie überhaupt richtige Frauen sind, wenn sie noch nicht einmal ein gesundes Kind zur Welt bringen können, ob sie zu viel Stress hatten, ob sie sich vielleicht nicht genügend auf das Kind gefreut haben, das Kind im ersten Moment der Schwangerschaft vielleicht sogar abgelehnt haben und deshalb schuldig sind, dass das Kind nicht bei ihnen geblieben ist, weil es sich nicht willkommen gefühlt hat.
So manche Frau hat auch mit Hilfe von Kinderwunschbehandlungen versucht, schwanger zu werden. Wenn sie es dann endlich gewesen ist und dann dieses Kind stirbt, ist es unendlich schwer für sie, denn es steht die Frage im Raum, ob sie jemals Mutter eines lebenden Kindes werden kann.
Viele Väter sind bei den Gesprächen und auch bei den Beerdigungen dabei. Väter übernehmen manchmal den Part beim Trauergespräch, die „harten Fakten“ der Geschichte zu erzählen. Sie erzählen auch von Reaktionen, die sie bekommen haben – verständnisvolle, aber auch von Menschen, die die Trauer der Eltern abgewertet haben, etwa „es war ja noch nichts“ oder „ihr seid ja noch jung, ihr könnt ja nochmal schwanger werden“ oder „ihr habt ja noch andere Kinder“. Solche Reaktionen verletzen Eltern in der Trauer um ihr einzigartiges Kind, das es so nicht wiedergeben wird. Männer schweigen aber, wenn ihre Frauen erzählen. Sie verstehen sich häufig als Begleiter ihrer Frauen, die ja die Schwangerschaft, die Geburt des toten Kindes körperlich alleine bewältigen mussten. Sie fühlen sich oftmals hilflos, weil sie das Geschick nicht ändern konnten, auch wenn sie es so gerne gewollt hätten. So mancher hat schon gesagt, er hätte gerne seiner Frau einen Teil der Last abgenommen. Es gibt auch einige Männer, die sagen, dass es für sie noch kein reales Kind gewesen sei, weil sie die körperlichen Veränderungen nicht selbst gespürt haben. An diesen Stellen wird klar, welche Belastung eine solch unterschiedliche Bewertung dessen, was gewesen ist, für die Partnerschaft bedeuten kann.
Manche der verstorbenen Kinder haben auch größere Geschwister, die sich auf das Geschwisterchen schon sehr gefreut haben, die Bilder gemalt haben, die das Kind durch den Bauch der Mutter geküsst haben, die schon überlegt haben, was sie mit ihm gemeinsam spielen könnten. Manche Geschwister wussten offiziell noch nichts von der Existenz des werdenden Lebens. Deshalb überlegen manche Eltern, es ihnen auch gar nicht zu sagen, sie nicht mitzunehmen zur Beerdigung. Die älteren Kinder bekommen sehr wohl die Gefühle der Eltern mit, die Traurigkeit, die Verzweiflung, wissen diese Gefühle aber nicht einzuordnen. Ein vermeintliches Verschonen kann an dieser Stelle auch einfach bedeuten, dass sich Eltern in dieser schwierigen Situation davor schützen, dieses traurige Ereignis verbalisieren zu müssen. Das bedeutet in der Konsequenz, dass das Geschwisterkind allein gelassen ist mit dem, was es an Trauer, Wut und anderen Gefühlen bei seinen Eltern wahrnimmt. Es hat keine Hilfe, diese Gefühle einzusortieren und steht alleine mit der Auseinandersetzung da.
Bei den Bestattungen sind auch immer wieder Großeltern anwesend. Wenn z.B. eine Mutter sehr jung ist, kommt häufig deren Mutter mit, die dort mit ihrer eigenen Trauer, aber vor allem auch mit ihrer Sorge um ihre junge Tochter anwesend ist. Großeltern kommen auch mit, wenn sie sich selbst sehr Enkel gewünscht haben. Dieser Wunsch kann allerdings Druck für die verwaisten Eltern bedeuten, was in der Trauerfeier zu berücksichtigen ist.
2.3 Tränen – Gefühlskälte
Es wird unendlich viel geweint, wenn Kinder so früh gestorben sind. Es gibt fast keine Erzählung von Eltern über ihr Kind, die nicht von Tränen begleitet ist. Tränen fließen, Tränen strömen, Tränen tropfen. Tränen werden versucht zu unterdrücken, herunterzuschlucken, um sprechen zu können. Das gelingt mal mehr, mal minder.
Diese Tränen erzählen auf eine viel tiefere Art und Weise als Worte es können von dem, was diesen Eltern passiert ist: Wie sehr sie der Tod des Kindes verletzt hat, wie traurig sie sind, wie unverstanden sie sich wissen – und dass sie mit allem gerechnet haben, aber nicht damit, dass ihnen ihr Kind stirbt. Dieses Thema ist immer noch etwas, an das „man“ nicht denkt – es ist ein Thema, das heute noch unter dem Teppich gehalten wird. Die meisten dieser jungen Eltern haben selber noch nicht erlebt, dass ihnen ein Verwandter gestorben ist – und müssen jetzt mit dem Tod ihres ungeborenen Kindes zurechtkommen.
Eine