Ich begann nach solchen Metaphern zu suchen, stieß aber auf eine weitere Schwierigkeit: Fast keiner dieser jungen Menschen wusste etwas vom christlichen Gott bzw. konnte etwas mit Metaphern anfangen, die ich in dieser Situation fand, einfach, weil das Verständnis der Welt ein ganz anderes ist. Es gibt kaum noch christlich–religiöse Prägung in Göttingen – fast keine/r kann z.B. das Vaterunser beten, keine/r weiß, was ein Segen ist. Wir haben auch muslimische Eltern dabei oder Buddhisten oder Menschen, die an heidnische Gottheiten glauben. Ich war also konfrontiert mit Menschen, die nicht christlich sind – hatte ich das Recht, nur weil ich die Bestattung als Christin und Seelsorgerin durchführte, sie in ein christliches Konzept von Bestattung zu pressen? Wozu habe ich hier überhaupt ein Recht? Darüber hinaus stellt sich nicht nur die Frage, ob ich das Recht habe, von dem Gott zu sprechen, an den ich glaube, weil ich der Bestattung vorstehe, sondern auch, ob ich dazu nicht sogar verpflichtet bin? Aber wie sollte ich es tun, wenn mir die Sprache von ihm angesichts des Leids dieser Eltern zwischen den Fingern zerbröselte?
Das waren Fragen, die sich mir immer lauter stellten.
Ich erkannte, dass Sprachlosigkeit Sensibilität für Begriffe schafft. Meine Sprachlosigkeit führte dazu, dass das, was ich einst als Gesprächsführung – aufbauend auf humanistischer Gesprächspsychologie18 – als Spiegelung rein verbaler Sprache sehr vereinfacht gelernt hatte, für mich an eine Grenze kam. Ich hatte es mit Sprachlosigkeit bei Trauernden, mit Wortlosigkeit bei mir und ihnen zu tun. Ich merkte, dass diese Sprachlosigkeit mir half, die Menschen genauer in den Blick zu nehmen. Ich erkannte die Sprachlosigkeit als Weg zu diesen Menschen und hielt sie nicht mit Worten doch auf eine bestimmte Art und Weise auf Distanz.
Rogers als Hauptvertreter der humanistischen Gesprächspsychologie wehrt sich zutiefst gegen die Verengung seiner Methodik, wie ich sie als seinen Ansatz gelernt hatte. Er schlägt für Berater ein „Sensivitätstraining“19 vor:
„das befähigt zu feinfühligerem Zuhören, dazu, mehr von dem unterschwelligen Sinngehalt zu erfassen, den der andere mit Worten, Gebärden und Körperhaltung ausdrückt, gibt die Möglichkeit von innen heraus intensiver so wie auch freier auf die Bedeutung des jeweils Geäußerten zu reagieren“20.
Rogers bedenkt, wie sich gezeigt hat, durchaus auch die nonverbale Kommunikation. So empört er sich in der Fußnote zu dieser Textstelle und schreibt:
„Ich kann nur hoffen, daß die oben erfolgte Darstellung des Einfühlungsvermögens als therapeutische Haltung endlich ausreichend meinen Standpunkt verdeutlicht, wonach ich keineswegs eine hölzerne Technik des Pseudoverstehens befürworte, bei welcher der Berater lediglich ,widerspiegelt, was sein Klient soeben gesagt hat’. Die Ausdeutungen meines Ansatzes, wie sie sich mitunter in der Ausbildung und Fortbildung von Beratern eingeschlichen haben, muß ich aufs schärfste mißbilligen.“21
Trotzdem hat das, womit ich zu tun hatte, mit etwas Anderem zu tun. Ich wusste, dass Worte nicht alles sind, dass Schweigen oder Tränen an dieser Stelle mehr sagen können als Worte. Aber ich hatte nichts mehr zu sagen angesichts der Widersprüche von Transzendenz und Immanenz, dass die Liebe von Eltern nicht ausgereicht hat, menschgewordene Liebe zu gebären. Jedes vorschnelle Wort von einem Gott, der das Leben für diese Kinder will, dass er ihnen Zukunft schenkt, wo sie ja bei ihren Eltern keine haben konnten (wer hat es ihnen denn genommen?) von Leben und Tod – von einem Leben, das zu Ende war, bevor es geboren wurde, verbot sich mir, als mir diese Frauen und Männer ans Herz rückten.
Damit wurde deutlich, dass die humanistische Gesprächspsychologie, auch in ihrer Nicht–Engführung, hier nur bedingt weiterhilft, obwohl ich wusste, was ich zu tun hatte, weil hier auf einmal theologische Grundsatzfragen im Raum standen, auf die ich keine Antwort hatte, auf die ich angesichts der Grausamkeit dessen, was Eltern erlebt hatten, nicht einfach irgendwelche theologischen Lösungen anbieten konnte, auch nicht in Form von Metaphern, aber auch nicht in philosophischen (und dann teils auch theologisch rezipierten) Überlegungen wie der Theodizee als Erklärung des Übels in der Welt22. Stattdessen geriet ich an meine eigene Grenze – was sollte ich diesen Frauen und Männern von Gott sagen, für den ich ja als Klinikseelsorgerin stand?
2.5 Gott verantwortlich machen – ihn verteidigen
Am Anfang der Bestattungen bin ich mit dem Selbstbewusstsein aufgetreten, ich hätte als katholische Klinikseelsorgerin Menschen in dieser Lebenssituation etwas zu sagen. Ich wollte von der Hoffnung sprechen, dass, wenn schon jetzt alles zerbrochen ist, am Ende einer sein wird, der die Menschen wiederaufrichten wird, der die Kinder aufnimmt, der ihnen jetzt, da sie tot sind, die Geborgenheit schenken wird, die ihre Eltern ihnen nicht schenken können. Auf diese Botschaft spürte ich jedoch keine deutliche Resonanz. Ich spürte nicht, dass sie die Eltern tröstet.
Dann habe ich überlegt, die biblische Tradition der Klage23 laut werden zu lassen: Indem ich bei einer Beerdigung z.B. Psalm 77 vortrug, erreichte ich die Eltern schon eher. Aber ich hatte das Gefühl, dass der Inhalt zwar richtig war, dass aber die „Verpackung“ – ein Gebet in „alter“, ungewohnter Sprache, dann doch wie eine unsichtbare Mauer zwischen den Eltern und dem Inhalt stand.
In all dem wurde nicht nur ein legitimer pastoraler Anspruch deutlich, sondern auch das verborgene Ziel, Gott verteidigen zu wollen. So suchte ich nach theologischen Konstrukten, die ein bestimmtes Bild Gottesbild retten könnten. Das Modell des mitleidenden Gottes von Jürgen Moltmann, das Modell der Trinität24, erschien hierbei als ein repräsentatives Modell, mit dem ich mich als Theologin vor diese Eltern stellen konnte. Ich wollte ihnen ja etwas von Gott sagen. Aber auch all diese Gedanken halfen nichts. Die Trauer der Eltern war größer. Sie wollten keine wohlfeilen theologischen Antworten, sondern sie wollten Trost. Dafür reichten ihnen die Sterne in der Nacht, so schien es mir. Die Sehnsucht nach einem neuen Tag schien mir nicht in ihrem Denkhorizont zu sein. Als seien sie durch den Tod ihrer Kinder zu Kindern der Nacht geworden, in der höchstens die Sterne der Mitmenschlichkeit und Solidarität untereinander die Nacht erhellen können – so auch beim Candlelighting–Gottesdienst25.
Durch diese Erlebnisse und auch durch die Analyse der Interviews wurde mein Begriff von Gott herausgefordert. Sie waren geradezu ein Angriff auf mein Gottesbild. Ich rang mit diesem Begriff von Gott, stellte mich den Frauen radikal an die Seite. Ich begann selbst, Gott zu klagen, warum diese Kinder gestorben sind. Ich weinte viele Tränen im Mitgefühl mit diesen Müttern. Ich hatte wirklich Angst, Gott selbst zu verlieren und begann zu verstehen, dass ich hier nichts retten kann, dass ich unendlich ohnmächtig bin, dass ich Gott nicht festhalten kann, sondern dass er selbst für sich und sein „Dasein“ verantwortlich ist und nicht ich. Ich musste lernen, dass ich als Theologin nicht für diesen Gott verantwortlich bin. Er entzog sich meinem Zugriff, so dass ich ihn nicht mehr „einsetzen“ konnte. Ich habe ein bestimmtes Gottesbild durch den Prozess der Auseinandersetzung mit diesen Eltern und besonders in den Interviews dieser Frauen verloren. So stand ich dann da – als eine Frau, die von Gott reden will, denn das ist es im wahrsten Sinne für mich, Theologin zu sein – aber ich war sprachlos. Ich hatte die Rede von ihm verloren, weil er sich mir in der Auseinandersetzung mit dem Tod noch nicht geborener Kinder entzogen hatte. So kam ich zu dem Schluss, dass ich bisher ein bestimmtes Gottesbild verteidigt, dieses aber letzten Endes verloren hatte.
2.6 Gewalt, Wut und Ohnmacht – Liebe
Die Frauen, die ihre Kinder verloren haben, haben häufig Gewalt erfahren. Oftmals berichten Frauen, dass ihre Körper nicht bereit waren, die Kinder herzugeben. Sie berichten, dass die Einleitung einer Geburt unendlich lange gedauert hat, mehrere Tage, dass es deshalb eine schwere Geburt war. Sie berichten von abwertenden Reaktionen von Ärzt/inn/en „es war ja noch nichts!“ oder von Hebammen, die so gucken, als wenn gerade ein Missgeschick passiert wäre. Sie erleben, dass sie mit ihren Gefühlen, dass da vielleicht etwas nicht stimmt, nicht ernst genommen werden, belächelt werden. Sie erleben, dass sie ihre Kinder – teilweise nur vom Stationspersonal betreut – auf dem Zimmer ohne Hebammenbetreuung entbinden müssen. Sie fühlen sich allein gelassen. Sie sind voller Wut auf die Situation, auf