Hugo Rahner geht es keineswegs primär um das Richtig oder Falsch oder die Angemessenheit oder die Widersinnigkeit kirchlicher Strukturen, sondern um die Gestaltung des Wie in der Communio, die immer beim Einzelnen verortet sein muss. Die Klagen der Kirche am Herzen ihres Hauptes über eine immer leerer werdende Kirche müssen von den Getauften zuallererst mit einem mea culpa beantwortet werden. Diese Einstellung kann in diesem Kontext wohl christliche Spiritualität genannt werden. Eine Spiritualität, die aus der menschlichen Unruhe geboren ist, bis sie in seinem Herzen Geborgenheit findet.140
Das Zweite Vatikanische Konzil hat die Sündhaftigkeit der Kirche intensiv diskutiert, wie Kardinal Karl Lehmann in seinem Vorwort zu Karl Rahners 1947 gehaltenem und 2011 wieder publizierten Vortrag über die „Kirche der Sünder“141 erinnert. Lehmann weist in diesem Zusammenhang vor allem auf die Rede des ersten Bischofs von Eisenstadt Stefan László hin, der am Beginn seiner bemerkenswerter Konzilsrede daran erinnert, dass „die Lehre von der Kirche ihre eschatologische Ausrichtung“ nicht vergessen sollte.142 In anderen Worten: Das Volk Gottes pilgert durch Zeit und Raum und verkündet in der Auferstehung des Herrn aller Menschen eigene Auferweckung (1Kor 11,16). Bischof László spricht keiner pilgernden Gruppe des Gottesvolkes den ernsten Willen ab, dem Weg des Herrn zu folgen, aber seine realistische Situationsanalyse weist auf die menschliche Schwäche des Abweichens von dem Weg Christi hin: „Es [das Volk Gottes] will treu sein, wird aber immer wieder untreu erfunden, [denn] die konkrete Kirche [ist] sehr verschieden […] von der, welche die Theologen und Prediger beschreiben.“143
Bischof László fordert in seinem kurzen Statement Ehrlichkeit von den Konzilsteilnehmern, nicht nur die „triumphalistisch[e] und heuchlerisch[e] Kirche“ zu sehen, sondern mit Blick auf ihre Pilgerschaft auch „immer von einer Ekklesiologie des Kreuzes“144 auszugehen. Denn „die Kirche ist in der Welt, aber die Welt ist auch in der Kirche, und der Ort des Kampfes zwischen der Gnade und der Sünde ist das Herz des Menschen.“145 Damit apostrophiert der österreichische Bischof die Verantwortlichkeit jedes einzelnen Getauften für die Heiligkeit der Kirche, die ja – wie oben erwähnt – immer Subjekt und Objekt dieser Welt ist. Die Kirche der Heiligen ist zugleich auch Kirche der Sünder hier auf Erden, denn die alleinig heilige Kirche hat ihren irdischen Weg bereits vollendet und ihr Ziel bereits erreicht. Seine realistische Sicht der sündigen heiligen Kirche fasst Bischof László abschließend in vier Punkten zusammen:146
(1) Die heilige Kirche mit ihrer Hierarchie ist auch eine sündige Kirche.
(2) Die Kirche muss sowohl als Einheit als auch als pilgernde Kirche mit einer Distanz zwischen Weg und Ziel gesehen werden.
(3) „Es muss ausdrücklich gesagt werden, daß die Kirche immer wieder reformiert werden muss, wie der Papst [Paul VI.] in seiner Ansprache vom 22. September dieses Jahres [1965] gesagt hat: ‚jene stete Reform, die die Kirche selbst als menschliche und irdische Institution dauernd nötig hat“‘.147
(4) Die Kirche hat auch „ein ausdrückliches Bekenntnis der Mitverantwortung und Mitschuld unserer Kirche an der Spaltung der Kirche“148 abzugeben.
Wenn in Bezug auf die Sündhaftigkeit der Kirche an Worte und Gedanken der beiden Brüder Hugo und Karl Rahner und des Bischofs Stefan László aus dem Burgenland erinnert wird, so muss nicht gleich an sexuellen Missbrauch kirchlicher Mitarbeiter aller hierarchischen Ebenen gedacht werden. Dieser hat erst seit den 1990er Jahren weltweit größere Aufmerksamkeit in den Medien und der Öffentlichkeit hervorgerufen. Der „sündige Mensch vor der heiligen Kirche der Sünder“149 hat sie, die heilige irdische Kirche als „Platzhalterin des heiligen Gottes in der Welt“150, in allen Bereichen ihres Denkens, Sprechens, Handelns und Unterlassens, also in allen Bereichen der sichtbaren Versammlung (LG 8) immer wieder verdunkelt. Dabei stehen strukturelle Fragen nicht im Vordergrund, vielmehr sind diese Konsequenzen ihrer Kultur, d.h. der Gesamtheit von Werten und Verhaltensnormen, die in der kirchlichen Gemeinschaft gelebt werden und die diese Gemeinschaft folglich auch in dem, was sie nach innen und außen hin denkt, redet und tut, beeinflussen.
Die Attraktivität der Kirche Jesu Christi beruht nicht auf einer vorgetäuschten populistischen Fehlerlosigkeit ihrer Mitglieder, vielmehr auf ihrer prophetischen Sendung, die die Welt aufwecken soll und das „Zeugen eines anderen Handelns“ verlangt.151 In seiner Ansprache an rund 120 Generalobere katholischer Männerorden Ende November 2013 fokussiert Papst Franziskus nicht auf die unterschiedlichen, bisweilen heute nicht mehr zeitgerechten Strukturen ihrer Gemeinschaften, sondern greift das Thema des Handelns des sündigenden Menschen auf, dem allerdings die Gnade zur Seite steht:152
Das Leben ist komplex und besteht aus Gnade und Sünde. Wenn jemand nicht sündigt, ist er nicht Mensch. Wir alle irren und müssen unsere Schwächen anerkennen.
Zwar waren sich schon die Kirchenväter wie Augustinus über die Kirche als corpus permixtum bewusst153, doch es waren erst das Zweite Vatikanische Konzil und die letzten Päpste, die den kirclichen Triumphalismus aus dem kirchlichen Vokabular – nicht immer erfolgreich – zu streichen begannen. Seitdem kann im kirchlichen Dialog auch von Strukturen der Sünde gesprochen werden, was jedoch keineswegs mit „sündigen Strukturen in der Kirche“ gleichzusetzen ist.154
2.1.7 Das Kirchenbild von Papst Franziskus
Schon vor dem Konklave hat Kardinal Bergoglio seine Stimme in der Generalkongregation erhoben und sein Verständnis über eine auf den Menschen zugehende und einladende Kirche artikuliert. Viele Kardinäle waren von den Einsichten Bergoglios beeindruckt, einer von ihnen, Kardinal Jaime Ortega, Erzbischof von Havanna, bat ihn um das Manuskript, das allerdings nicht existierte, weil es ganz spontane Gedanken waren, die der Erzbischof von Buenos Aires im Vorkonklave im Kreis der anderen Kardinäle geäußert hatte. Bergoglio „rekonstruierte“ seine kurze Rede über Nacht und gestattete Kardinal Ortega, diese auch zu veröffentlichen.155
In der Kirche muss eine mutige Freiheit der Rede vorausgesetzt werden, damit sie sich nicht „im Geist des theologischen Narzissmus“ um sich selbst dreht und so nicht aus sich selbst herausgehen kann. Auch vier Jahre nach dem Beginn seines Pontifikats ist von seiner Überzeugung der freien Meinungsäußerung kein noch so kleiner Abstrich zu bemerken. Im Gegenteil, besonders eher traditionelle kirchliche Kreise kritisieren den Stil der offenen Rede innerhalb des Bischofskollegiums genauso wie die oft sehr spontanen Äußerungen, Bonmots und „flapsigen Bemerkungen“156 von Franziskus. Der emeritierte Kardinal Francis George von Chicago drückt die Einzigartigkeit des Papstes mit den Worten „He is free“ aus und macht ihn so ohne Zweifel zu einem „Hoffnungsträger für viele Menschen in unterschiedlichen Welten und Kulturen“.157
Im Vorkonklave erwähnt Kardinal Bergoglio Jesus, der vor der Türe steht und anklopft (Offb 3,20), aber er meint auch, dass Jesus oft ebenso „von innen klopft“, weil er aus der „egozentrischen Kirche […] nach außen treten“ möchte. Eine solche Kirche dreht sich um sich selbst und meint, dass sie selbst Licht ist. Dieses „schreckliche Übel“ nennt der Kardinal „geistliche Mondänität“ in einer Kirche, in der „die einen die anderen beweihräuchern“.158 Danach spricht er ganz kurz über das Anforderungsprofil des nächsten Papstes, zu dem er einige Tage später selbst gewählt wurde:159
Was den nächsten Papst angeht: (Es soll ein Mann sein) der aus der Betrachtung Jesu Christi und aus der Anbetung Jesu Christi der Kirche hilft, an die existentiellen Enden der Erde zu gehen, der ihr hilft, die fruchtbare Mutter zu sein, die aus der ‚süßen und tröstenden Freude der Verkündigung‘ lebt.
Abschließend stellt Kardinal Bergoglio die zwei gegensätzlichen Kirchenbilder gegenüber und lässt keinen Zweifel daran, welchen Weg er für den einzig gangbaren hält: „die verkündende Kirche, die aus sich selbst herausgeht, die das ‚Wort Gottes ehrfürchtig vernimmt und getreu verkündet‘, und die mondäne Kirche, die in sich, von sich und für sich lebt“. Dem in die Zukunft