Die katholische Kirche ist ein Haus voll Glorie, weit über alle Lande dieser Erdenwelt. Wir rühmen sie, weil wir sie lieben. Denn sie ist die heimliche Königin der Menschengeschichte. Schon aus der Urzeit der Kirche in deutschen Landen klingt ihr Lobpreis: ‚Gebenedeit sei die Kirche in der Kraft des Herrn, denn durch sie hat Gott die Gewalt des Bösen vernichtet. Gebenedeit sei sie, denn ihr Glaube und ihr Gottesdienst herrschen königlich über den Erdkreis. Und nie soll verstummen auf den Lippen der Menschen der Lobpreis der Kirche.
Von diesem Bild der societas perfecta, dem die Staatstheorie von Aristoteles und Thomas von Aquin zugrunde liegt, verabschiedete sich das Zweite Vatikanum,127 das die Kirche sakramental und kommunional als pilgerndes Volk Gottes, Leib Christi und Tempel des Heiligen Geistes gesehen hat (LG 17).
Die nach innen und nach außen hin wirkenden Fehlschritte der sündigen Kirche als der in der Welt „sichtbaren Versammlung“ (LG 8) halten Gott jedoch nicht davon ab, sie in seiner Liebe weiterzutragen. Denn er „hat die Welt so sehr geliebt, dass er seinen eigenen Sohn hingab“ (Joh 3,16). Es ist die eigene Schwachheit, der sich der Apostel Paulus rühmt (2 Kor 11,39).
Hugo Rahners poetische Sprache klingt schon wie die der Konzilsväter des Zweiten Vatikanums: Er spricht von der Mutter Kirche (LG 14; 15; 41; 42), die geliebt ist in ihrer ganzen Gebrechlichkeit, denn „Gottes Gewalt vollendet sich in der Schwäche“ (2Kor 12,9). Gerade in den Zeiten der Bedrängnis und der Verfolgung. Ihr Pulsschlag ist der Pulsschlag der Getauften. Ihre Hoffnung ist die aller Schwestern und Brüder. Ihr Glaube ist der Glaube des Gottesvolkes. Ihre Liebe ist die Liebe der Glieder des einen Leibes. Das pochende Herz der Mutter Kirche ist das Herz ihrer Kinder, die die nüchternen Fakten der statistischen Klagelieder aus Europa und Nordamerika ununterbrochen wiederholen ohne über ihre eigene Metanoia, ihr eigenes Umdenken nachzudenken: Die Zahlen der Kirchenaustritte steigen von Jahr zu Jahr, in den meisten Diözesen herrscht pastoraler Personalnotstand, Finanzen reichen vorne und hinten nicht mehr aus, obwohl die Kirchenbeiträge sowohl in Deutschland als auch in Österreich noch immer wachsen, Strukturen entsprechen nicht mehr den pastoralen und sozialen Anforderungen von heute, Kirchengebäude und -besitz müssen verkauft werden, um morgen am Leben erhalten zu können, was gestern geboren wurde.
Viele Analysen dieser pfingst-fernen Klagelieder bleiben an der Oberfläche haften. Sie suchen zwar nach Gründen der Misere, finden sie auch, aber immer im Anderen und anderen: in der Kirchensteuer, in den Skandalen in und um Priesterseminare, in der Unvollkommenheit von Bischöfen und Priestern, in der Unbeweglichkeit der Gläubigen und im Unverständnis derer, die den Geruch des Schafstalls nicht ertragen zu können meinen (EG 24).
Und doch sind Getaufte und Nicht-Getaufte, ob sie gemeinsam beten und arbeiten oder auch nicht, immer wieder von der Kirche Jesu Christi fasziniert. Denn:
Die Kirche ist durch sich selbst ein unwiderlegliches Zeugnis ihrer göttlichen Sendung, kraft ihrer hervorragenden Heiligkeit und ihrer unerschöpflichen Fruchtbarkeit in allem Guten. Sie ist das unter den Völkern aufgerichtete Zeichen, das alle einlädt, die noch nicht glauben.128
Daraus folgert Hugo Rahner:129
Das ist wahr. Das ist ewige Wahrheit. Aber wenn nur einer von draußen kommt und sagt: Zeige sie mir, diese Una Sancta, hier und heute, in deiner Familie, in deiner Stadt, in Deutschland, in Rom, in Südamerika, auf dem Weltrund? Seien wir ehrlich mit unserer Antwort.
So die fragenden Worte Hugo Rahners vor mehr als einem halben Jahrhundert, der dann Augustinus mit der Frage nach dem fragwürdigen Verhalten so mancher Christen zu Wort kommen lässt:130
Stellen wir heute neben das hehre Wort des Konzils [und damit meinte Rahner das Tridentinische Konzil] einmal ein anderes Wort – Augustinus hat es der Kirche in den Mund gelegt, Augustinus, der glühende Liebhaber der Catholica Mater: ‚Die mir schon nahe standen, um zu glauben, wurden abgeschreckt durch das Leben der schlechten und falschen Christen. Wie viele nämlich, meine Brüder, glaubt ihr, möchten gerne Christen sein, aber sie werden beleidigt von den üblen Sitten der Christen.‘131
Nicht die Kirchensteuer ist es ursächlich, die Schafe ihren Stall verlassen lässt. Nicht der Skandal ist es ursächlich, der Schafe die Flucht ergreifen lässt. Der Grund ist jener, der sich Christ nennt, der nicht glaubwürdig genug sein Christsein lebt und andere erleben lässt. Die Erneuerung der Kirche beginnt nicht im Pfarrgemeinderat oder im Ordinariat oder im Vatikan, sondern bei dem Menschen, der den Namen Christi trägt, d.h. bei jedem Getauften; eine Forderung, die in der Verkündigung zwar immer wieder betont wird, aber bisweilen nicht gehört werden will.
Hugo Rahner sagt über unsere Kirche, dass sie immer beides ist: „Kraft und Schwäche, Glorie und Verächtlichkeit, sie ist Herrin und Magd, thronende Königin und arme Pilgerin. Das ist eine Glaubenstatsache.“ Und Rahner fügt hinzu: „Kirchenglorie muss schon auf Erden sein, Kirchenschwäche muss ausgeduldet, geheilt, ja bekämpft werden.“132
Die Kirche ist aber auch Glaubensprüfung. „Es ist wahr“, meint Hugo Rahner: „Die Kirche ist, auch hienieden schon Herrin, und wenn unser Auge nicht blöde ist und gehalten, sehen wir in gnadenvollen Stunden den Goldglanz ihres Wesens durch die Risse ihres elenden Pilgergewandes schimmern.“133 Augustinus meint: „Wer sind denn diese Christen? Wie sind diese Christen? Geizkragen, Geschäftemacher sind sie. Sind es nicht die Christen, die das Theater und den Zirkus füllen, die gleichen, die an Festtagen die Kirche füllen?“134 Papst Franziskus hat in seinem vorweihnachtlichen Treffen mit der vatikanischen Kurie ähnlich harte Worte verwendet, allerdings nicht wie Augustinus als Frage gestellt. Franziskus spricht von fünfzehn Krankheiten und sieht dabei den Kardinälen in die Augen135: „die Krankheit, sich für unsterblich oder unverzichtbar zu halten … die Krankheit des exzessiven Tätigseins … die Krankheit der ‚mentalen und spirituellen Versteinerung‘ … die Krankheit der exzessiven Planung … die Krankheit der schlechten Koordinierung … die Krankheit des ‚geistlichen Alzheimers‘ … die Krankheit der Rivalität und der Eitelkeit … die Krankheit der existentiellen Schizophrenie … die Krankheit des Geschwätzes und des Klatsches … die Krankheit, die Oberen zu vergöttlichen … die Krankheit der Gleichgültigkeit gegenüber den anderen … die Krankheit des ‚Gesichts wie bei einer Beerdigung„ … die Krankheit des Anhäufens materieller Güter … die Krankheit der geschlossenen Kreise und der Zugehörigkeit zu Grüppchen … die Krankheit des weltlichen Profits, des Exhibitionismus“.
In ihrer Direktheit könnten diese Worte wohl nicht von Hugo Rahner stammen, der eine noble, vornehme, weniger direkte und eher poetische Sprache auf den Lippen hatte. Und doch könnte Rahner mit uns selbst „irre an der Kirche oder kirchenmüde [werden], weil ihr irdisches Erscheinungsbild so armselig ist“.136 Er fragt sich, ob nicht viele der Kirchenglieder (und dabei spricht er von wir) Armselige, Sonntagkatholiken, Taufscheinversicherte, Gelegenheitsfromme, bequem gewordene Hirten seien, die das Bild der Catholica verzerren und verdunkeln:137
Weil wir so sind, darum ist die Kirche für viele, die draußen stehen, Glaubensprüfung, vielleicht oft Glaubenshindernis, und für viele, die drinnen sind (für uns selbst oft) billige Entschuldigung dafür, dass wir heimlich eben das tun, was wir an der Kirche so messerscharf zu tadeln wissen.138
Diese Kirche, die sich draußen auf den Straßen immer wieder schmutzig macht (EG 49), „ist aber auch unsere Glaubensfreude. Nicht nur, obwohl sie schwach ist, sondern weil sie schwach ist. Wir schämen uns ihrer nicht, weil es an ihr noch so viel beschämende Dinge gibt.“139 Gesagt und niedergeschrieben von einem Jesuiten vor mehr als einem halben Jahrhundert, am Beginn jener kirchengeschichtlichen Epoche – so darf man heute wohl schon sagen –, in der das im 19. und 20. Jahrhundert geformte Kirchenbild überdacht und seiner pianischen Übertünchung entledigt wurde. Papst Franziskus nimmt in seinen Worten die