Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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mit seinem Volk sprengt alle Zeiten (Jer 7,23; 24,7; 31,33; 32,36-44; Ez 11,20; 14,11) und alle Räume (Sach 2,14-15). Damit bettet Gott seine Beziehung zu seinem Volk in eine immerwährende Dynamik, die die räumliche und zeitliche Wirklichkeit offen hält „für eine größere und umfassendere Erfüllung“.95

      Im Neuen Testament wird die alttestamentliche Bezeichnung „Volk Gottes“ für die Kirche angewandt (Apg 15,14; 18,10; Röm 9,25-26; 2Kor 6,16 u.a.), jedoch nicht mit λαóς, sondern mit ἐκκλησία τοῦ θεοῦ übersetzt. In der Taufe werden alle Menschen, auch wenn sie nicht „sein Volk“ waren, Teil des auserwählten Volkes Gottes (1Petr 2,9-10), womit die universale Verheißung Gottes an Abraham Wirklichkeit wird, deren Erben allerdings nicht die Getauften sind, sondern Christus selbst. Paulus spricht nämlich in seinem Brief an die Galater nicht von „den“ Erben der Verheißung, sondern von dem „einen“ Erben, der Jesus Christus ist (Gal 3,16). Und damit wird die eschatologisch begründete Volk-Gottes-Ekklesiologie christologisch fundiert.

      Die Kirche ist auf unsicheren Straßen der Welt unterwegs zum sicheren Ort, dem „Land seiner Ruhe“ (Hebr 4,1-11). Das bedeutet für sie, stets der ihr aufgrund ihres Pilgerns auf den staubigen Straßen der Welt anhaftenden Bedrohung bewusst zu sein und nach der ewigen Sabbatruhe Ausschau zu halten. Das heißt auch, dass die Kirche als sich durch Raum und Zeit bewegendes Volk Gottes immer wieder den Staub der Welt aus ihrem Antlitz wischen und abschütteln muss, um ihr Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Die Kirchengeschichte hat und zeigt bis heute immer wieder Zeichen dafür, dass ihr Blick durch den Staub dieser Welt getrübt sein kann, sie in dieser Situation jedoch niemals allein gelassen ist, denn auf dem geschichtlichen Weg des Volkes Gottes begleitet sie Jesus Christus als ihr Haupt: „Er ist das Haupt des Leibes, der Leib aber ist die Kirche“ (Kol 1,18). Die Volk-Gottes-Ekklesiologie widerspricht also nicht der Leib-Christi-Ekklesiologie, sondern setzt diese voraus. Walter Kasper präzisiert, dass „man nicht sagen [kann], die Kirche sei der gegenwärtige und weiterwirkende Christus und die Fortsetzung der Inkarnation. Richtiger muss man sagen, Christus sei in der Kirche wirksam gegenwärtig.“96 Wäre sie der inkarnierte Jesus Christus selbst, würde sie keine „Kirche der Sünder“97 sein und daher keiner Veränderung, keines Wandels, keiner Umkehr, keiner Läuterung bedürfen. Jesus Christus gibt seiner Kirche die Sicherheit, dass sie sich auf ihrem Weg durch Zeit und Raum nie hoffnungslos verirren kann; er ist ihre Orientierung und führt sie immer wieder auf den richtigen Weg zu ihrem Ziel, dem himmlischen Jerusalem.

      In den vier Jahrhunderten zwischen dem Konzil von Trient (1545–1563) und dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) betonte die katholische Lehre, ausgelöst auch durch die reformatorische Ablehnung der Begriffe „Kirche“ und „Volk Gottes“ durch Martin Luther,98 vor allem das Wesen der Kirche als „Leib Christi“.

      Im Zweiten Vatikanum haben die Konzilsväter im Unterschied, allerdings nicht im Gegensatz zur vor-konziliaren Wesensbestimmung der Kirche als Leib Christi99 in Lumen gentium von der Kirche als messianisches Volk Gottes gesprochen (LG 9-12), dessen Haupt Christus ist (LG 9). Damit wollte vor allem betont werden, dass die Rettung des Menschen durch Christus „nicht einzeln, unabhängig von aller wechselseitigen Verbindung“ geschehe, sondern „als Gemeinschaft, nämlich als Volk Gottes“.100 Diesem Kirchenbild trat in den Jahren nach dem Konzil vor allem die europäische Theologie mit einem gewissen Argwohn entgegen, weil dahinter „eine einseitige soziologische, politologische, basisbezogene Ekklesiologie“101 vermutet werden konnte. Für Papst Franziskus, der aus einem ganz anderen kirchlichen Milieu und mit – von der europäischen Kirche unterschiedlichen – Erfahrungen in das Petrusamt gewählt wurde, ist das Bild der Kirche als pilgerndes Volk Gottes für die Pastoral viel praktischer und konkreter verständlich.102 Die universale Offenheit gegenüber den älteren Geschwistern der jüdischen Religion103 und die Volk-Gottes-Ekklesiologie als „Einordnung der Kirche ins Ganze der Menschheitsgeschichte“104 sind keine neuen Gedanken, hat doch schon Augustinus von der ecclesia ab Abel iusto105 gesprochen.

      Auch wenn es mit einem flüchtigen Blick auf die angestrebte Öffnung der Kirche im Zweiten Vatikanischen Konzil so erschiene, wie die postkonziliaren Nachwehen bisweilen vermuten ließen, basiert die eschatologischchristologische Ekklesiologie des Gottesvolkes im biblischen λαός (Volk, Leute) und nicht im soziologischen, politischen oder völkischen Begriff δῆμος (Volk, Abteilung, Gefolgschaft), den manche Kreise als Fundament für eine „strukturelle“ Demokratisierung der kirchlichen Gemeinschaft ins Feld führen möchten. Es kann nicht übersehen werden, dass sich viele – auch innerkirchliche – Kreise immer wieder mit Strukturfragen der Kirche herumschlagen, das theologische Fundament der inneren Umkehr jedoch hintanstellen. Walter Kasper hat für diesen Irrweg des pilgernden Volkes Gottes klare Worte:106

      Wir beschäftigen uns viel zu sehr mit uns selbst und bilden uns ein, dass die Menschen daran vor allem interessiert sind. Das ist eine große Selbsttäuschung. Die Menschen fragen, wenn sie religiös interessiert sind, nicht in erster Linie nach der Kirche, sie fragen nach Gott. Nach der Kirche fragen sie insofern, als in ihr etwas von der Wirklichkeit Gottes aufstrahlt und die Kirche ihnen dazu etwas zu sagen hat.

      Glaubhaft wird der notwendige Wandel der Kirche nur durch eine kulturelle Neuorientierung angestoßen werden können, nicht aber durch nie enden wollende Diskussionen um ihre Strukturen. Diese sind Folgen der heutigen Situation der Kirche, nicht aber Grund und Ursprung der zunehmenden Kirchenferne. Nur dann, wenn die Kirche eine Weggemeinschaft ist, „die im Glauben und im Lob Gottes gemeinsam zum himmlischen Jerusalem unterwegs ist“,107 wird Kirche authentisch Kirche sein können.

      Es waren die Konzilsväter des Zweiten Vatikanums, die in Lumen gentium, der Dogmatischen Konstitution über die Kirche, deren Wesensbestimmung mit der menschlichen Verfasstheit andachten: „Der einzige Mittler Christus hat seine heilige Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe, hier auf Erden als sichtbares Gefüge verfasst und trägt sie als solches unablässig.“108 Im selben Absatz dieses ersten Kapitels der Konstitution, das den Gedanken des Mysteriums der Kirche erläutert, wird jedoch zugleich festgehalten, dass diese eine Kirche Christi aus zwei Elementen zu einer einzigen komplexen Wirklichkeit zusammenwächst; das Konzilsdokument spricht von der Kirche als

      (1) der mit hierarchischen Organen ausgestatteten Gesellschaft und dem geheimnisvollen Leib Christi,

      (2) der sichtbaren Versammlung und der geistlichen Gemeinschaft,

      (3) der irdischen Kirche und der mit himmlischen Gaben beschenkten Kirche, und

      (4) einem menschlichen und göttlichen Element (LG 8).

      Das Mysterium der Kirche besteht nicht nur in ihrer Verfasstheit durch den „einzigen Mittler Christus“ (LG 8), sondern auch darin, dass diese beiden konstituierenden Größen nicht voneinander getrennt gedacht und isoliert betrachtet werden können, sondern „eine einzige komplexe Wirklichkeit […] bilden, die […] zusammenwächst“.109 In der irdischen Kirche Christi greift Gott nach dem Menschen und dieser streckt sich in der sichtbaren Gemeinschaft, gebettet in der Konkretheit von Raum und Zeit, nach dem göttlichen Element.

      Die Konzilsväter sprechen nicht davon, dass das menschliche und das göttliche Element bereits zu der von ihnen „komplex“ genannten Realität zusammengewachsen sind, sondern dass sich diese im Status des Zusammenwachsens befinden, d.h. sich durch Raum und Zeit bewegen. Menschliche Gemeinschaften, also Organisationen oder – im umfassenden Sinn – Kulturen, die aufgehört haben sich zu bewegen und zu wachsen oder ihren Willen sich weiter zu entwickeln, nicht mehr artikulieren können oder wollen, sind dem Untergang nahe.110 Die Analogie dieser organisationspsychologischen Prämisse, die für weltliche Institutionen und hier vor allem für profit-orientierte Produktions- oder Dienstleistungsunternehmen längst Allgemeingut geworden ist,111 wird später auch für der Kirche zugeordnete Institutionen und die Kirche selbst beleuchtet und hinterfragt werden müssen.

      Bischöfe und Theologen des Zweiten Vatikanums streichen in diesem Zusammenhang