Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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Welt“ bei ihnen ist; nicht sein oder bleiben wird, sondern ist (v.20b).

      Dieser „Große Sendungsauftrag“ liegt der missionarischen Tätigkeit vieler Jahrhunderte zugrunde. Und er kann und soll es auch bleiben, solange die Jünger des Herrn nicht meinen, jene zu ihrem Glück zwingen zu müssen, die vom Geist Jesu noch nicht ergriffen sind. Unter diesen Vorzeichen wird Mission nicht zur Frohen Botschaft, sondern zum Gesetz.

      Eine triumphale Kirche, die mit einem oft aggressiven oder neokolonialen Gehabe in die Welt hinausgeht und Zivilisation, Demokratie und Wohlstand verspricht, wurde in den letzten Jahrhunderten zu Recht mit Eroberern gleichgesetzt und als solche abgelehnt.75 Ein Blick auf eine andere Stelle des Matthäus-Evangeliums, nämlich Mt 5,13-16, kann das Verständnis von Mission und Evangelisation korrigieren, ohne den „Großen Sendungsauftrag“ zu entthronen. Diese Stelle wird oft sehr stiefmütterlich behandelt: Sie setzt den Sendungsauftrag Jesu „… geht … macht … tauft … lehrt“ nicht außer Kraft, sondern ergänzt ihn. Die Worte in Mt 5,1316 beschreiben die missionarische Sendung weniger im Sinn verbaler Verkündigung als im Sinn des Zeugnisgebens. Papst Franziskus nimmt diesen Gedanken auf, wenn er in Evangelii gaudium auf das pastorale Anforderungsprofil des Missionars hinweist: „Jesus sucht Verkünder des Evangeliums, welche die Frohe Botschaft nicht nur mit Worten verkünden, sondern vor allem mit einem Leben, das in der Gegenwart Gottes verwandelt wurde.“ (EG 249) Zweifellos ist diese Aufforderung zum missionarischen Zeugnis für das Reich Gottes nicht auf einen bestimmten Kontinent oder ein bestimmtes Land beschränkt. Die Verse in Mt 5,13-16 sind Teil der Bergpredigt und zielen auf ein Verständnis einer integralen Mission, in der die Verkündigung der Worte Jesu erst durch das Zeugnis glaubwürdig wird:

      Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr; es wird weggeworfen und von den Leuten zertreten. Ihr seid das Licht der Welt. Eine Stadt, die auf einem Berg liegt, kann nicht verborgen bleiben. Man zündet auch nicht ein Licht an und stülpt ein Gefäß darüber, sondern man stellt es auf den Leuchter; dann leuchtet es allen im Haus. So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.

      Diese Worte der Orientierung für die Jünger, die Jesus nachfolgen, sind der verbindende Text zwischen der Eröffnung der Bergpredigt, d.h. den eigentlichen Seligpreisungen (Mt 5,2-12) und der Zusammenfassung seiner Rede in IchForm: „Denkt nicht, ich sei gekommen, um […] Ich bin nicht gekommen, um […] Amen, das sage ich euch: […] Darum sage ich euch: […]“ (Mt 5,17-20). Während die Seligpreisungen eine Art Ouvertüre zu dem darstellen, was das Leben eines Christen beinhalten soll, erläutern die Ich-Worte Jesu den Zweck seiner Rede. Der eigentliche Sendungsauftrag, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein (vgl. Mt 5,13-16), fokussiert auf der missionarischen Orientierung des Lebens der Jünger Jesu, durch die die Welt erlöst wird. Die Seligpreisungen (Mt 5,3-12a) zeigen an, wie das christliche Leben gelebt werden soll, die Worte Jesu in Ich-Form (Mt 5,17-20), was er unter der Erfüllung des Gesetzes versteht, und der eigentliche Sendungsauftrag (Mt 5,13-16), weshalb christliches Leben für die Erlösung der Welt wesentlich ist76.

      Für Soares-Prabhu, den indischen Theologen aus dem Jesuitenorden, sind die von Jesus verwendeten Bilder von Salz und Licht offene Symbole, die in ihrer Bedeutung nicht unbedingt starr festgeschrieben sind. Salz kann das Gericht schmackhafter machen, Salz kann jedoch auch die Suppe versalzen. In der Natur schenkt Licht die Fähigkeit des Wachsens und kann die Leistungsfähigkeit des arbeitenden Menschen erhöhen, Licht kann jedoch auch blenden und das Sehvermögen zerstören. Diese beiden Bilder im Matthäus-Evangelium müssen also im Kontext der Rede Jesu verstanden werden, denn sie beschreiben ja nicht das exakte Verhalten der Jünger, die folgen. Für Soares-Prabhu ist es denkbar, dass der Evangelist in seiner Textkomposition gar nicht auf eine spezifische christliche Haltung anspielt, sondern simpel und einfach auf die unverzichtbare Rolle der Jünger bei der Erlösung der Welt hinweisen möchte. Wenn Jesus vom Salz der Erde und Licht der Welt spricht, geht es ihm um das Wie – wie die missionarische Rolle seine Anhänger in der Heilsgeschichte Gottes aussehen muss: „So soll euer Licht vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen“ (Mt 5,16). In ihrer gemeinsamen Sorge um das Reich Gottes geht es primär und vornehmlich nicht um Worte, sondern um das lebendige Beispiel und das glaubhafte Zeugnis aller Getauften.

      Damit treffen die von Matthäus aufgezeichneten Worte auf die verkürzte Definition dessen, was Inhalt dieser Studie „Kultur der Kirche“ sein möchte: das Wie oder die Art und Weise, wie die Communio des gesamten Volkes Gottes auf ihr Ziel, die Verherrlichung des Vaters durch die Teilnahme am himmlischen Festmahl, zugeht (Lk 14,15-24; Mt 22,1-14; Offb 19,9). „Denn christliches Leben im Alltag richtig zu leben bedeutet schon Mission; die Bergpredigt, die die Konturen christlichen Lebens umreißt, wird zu einer Strategie für die missionarische Sendung!“77 Mit Blick auf das Organisationsmodell der Kirche mit seinen drei Dimensionen wären somit ihre Strategie die Worte der Bergpredigt; ihre Struktur die vom Geist Gottes inspirierte Hierarchie des Gottesvolks hier auf Erden; und ihre (Organisations-)Kultur die Art und Weise, wie die Gläubigen die „guten Werke“ (Mt 5,16) im alltäglichen Denken und Tun in und für die Kirche leben. Einer Zurschaustellung der Frömmigkeit seiner Jünger erteilt Jesus eine harsche Absage: „Wenn ihr betet, macht es nicht wie die Heuchler […]“ (Mt 6,5).

      Die Bedeutung von Mt 5,13-16 für das Leben der Jünger in der Communio kann somit in fünf Gedanken zusammengefasst werden, die – ohne schon auf eine Analyse organisationskultureller Dimensionen vorweggreifen zu wollen78 – als Fundament des „Sendungsverhaltens“ des Volkes Gottes interpretiert werden können:79

      (1) Die Worte der Bergpredigt sind nicht an eine spezifische Gruppe unter den Jüngern Jesu gerichtet, sondern an das ganze Volk, mit dem er in Raum und Zeit unterwegs ist. Alle Getauften sind seine Jünger, was auch bedeutet, dass seine Anhänger nicht bloß eine Sammlung von Individuen sind, die ihm folgen, sondern eine „Kirche“ (Mt 16,18), d.h. eine Gemeinde (Mt 18,17). Diese, nicht ein einzelner Jünger, soll Salz der Erde und Licht der Welt sein, damit sie Gott verherrliche. Die „guten Werke“ (Mt 5,16), die Jesus in seiner Predigt auf dem Berg als Umsetzung der selbstlosen Liebe christlichen Lebens darstellt, sollen von der ganzen Gemeinschaft der Kirche sichtbar gemacht werden – und „nicht bloß von einer Mutter Teresa“, wie Soares-Prabhu im sozialen Kontext seines Heimatlandes erläutert.80 Eine Gemeinschaft erlangt ihre Authentizität nicht allein durch das Bekenntnis ihres Glaubens an Jesus, sondern wesentlich durch ihr glaubhaftes Tun, bei dem es darum geht „den Willen [… des] Vaters im Himmel“ (vgl. Mt 7,21) zu erfüllen, wie es Jesus in der Bergpredigt formuliert.

      (2) Das wirkliche Fundament des Sendungsauftrags Jesu ist das, was die Kirche durch ihr eigenes Leben und ihre Praxis der Welt weitergibt. Wenn die Gemeinschaft durch ihr Leben nicht mehr Zeugnis ablegen kann für das, wofür sie von Jesus ins Leben gerufen wurde, nämlich Salzgehalt und alles erhellendes Licht für die Welt zu sein, dann wird sie zum Club oder zu einer wohltätigen Non Governmental Organization (NGO).81 Mission bedeutet die Weitergabe oder Kommunikation des eigentlichen Lebens, das ganz spontan aus dem zeugnisgebenden Leben der Gemeinde hervorbricht. Analog zu einer medizinischen Infektion spricht Soares-Prabhu von einer Infektion82, die christliches Leben nur dann weiterreichen kann, wenn es zuerst ohne Überheblichkeit (Mt 7,5; 15,7) in der christlichen Gemeinschaft glaubhaft gelebt wird. Wie kann von einer missionarischen Kirche die Rede sein, wenn in einer Pfarre – und auch in der vatikanischen Kurie – Verleumdung, Lüge und Verachtung den Alltag bestimmen?83 Wie kann eine Diözese ihrem pastoralen Auftrag nachkommen, wenn sie sich nur selbst verwaltet, ihre Leuchtkraft nach außen hin allerdings verloren hat? Wo bleiben Menschenwürde und christliche Achtung für das Anderssein, wenn unter dem Missionsauftrag Jesu, also unter dem Wachsen der Kirche nur mehr der quantitative Zuwachs an Christen verstanden wird? Wo findet sich Jesu Präsenz in solchen Gemeinden, die nicht mehr vom Geist erfüllt und geführt werden, sondern von einer Selbst-Reproduktion infiziert sind?84

      (3)