Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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Gott und der Welt den ganzen Leib seiner Kirche zusammenfügt und in jedem einzelnen Gelenk mit der ihm zugemessenen Kraft festigt, „so wächst der Leib und wird in Liebe aufgebaut“ (Eph 4,16). Somit stellen die Konzilsväter die Ähnlichkeit beider Strukturen und Sachverhalte fest: das Mysterium des fleischgewordenen Wortes (Joh 1,14): „Wie nämlich die angenommene Natur dem göttlichen Wort als lebendiges, ihm unlöslich geeintes Heilsorgan dient, so dient auf eine ganz ähnliche Weise das gesellschaftliche Gefüge der Kirche dem Geist Christi, der es belebt, zum Wachstum seines Leibes.“112

      Es ist also der Geist des Herrn selbst, der die komplexe kirchliche Wirklichkeit der menschlichen und göttlichen Elemente lebendig macht und sie wachsen lässt. Als verflochtene Realität ist die Kirche in dieser Welt jedoch weder ein Apparat113, eine soziale Institution oder mit den Worten von Papst Franziskus eine NGO114, auch wenn sie sich bisweilen in solchen Rollen verfängt, noch die societas perfecta, die in ihren apologetischen Ansätzen bis in das 20. Jahrhundert hinein über alles Menschliche erhaben zu sein schien und sich gegenüber dem im Zweiten Vatikanum ansetzenden sakramentalen und kommunionalen Ekklesiologieverständnis noch nicht geöffnet hatte.115

      Mit einem Blick zurück auf die frühe Kirche scheint das Nizäno-Konstantinopolitanische Glaubensbekenntnis mit den Worten „Wir glauben […] an […] die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche“116 eine Antwort auf die Frage nach der Einheitlichkeit und Gleichhaftigkeit oder der Unterschiedlichkeit der einen Kirche in ihrer weltlichen Wesenhaftigkeit zu geben. Auch die Konzilsväter betonen in der Kirchenkonstitution, dass die Kirche der Menschen hier auf Erden mit ihren hierarchischen Strukturen und die Kirche der Menschen hier auf Erden, über die Gott seine Gnaden ausgießt, nicht zwei unterschiedliche Organisationen seien, sondern „eine einzige komplexe Wirklichkeit, die aus menschlichem und göttlichem Element zusammenwächst“ (LG 8). Wenn aber über Kirche von Zusammenwachsen ihrer irdischen und himmlischen Wesenheit gesprochen wird, scheint sich doch zunächst eine zumindest gewisse Heterogenität zu bestätigen.

      Mit Recht stellt sich demnach die Frage, ob nicht auch noch im Zweiten Vatikanum eine bestimmte duale Einteilung der weltlichen Wirklichkeit mitschwingt, die ihre Dämonisierung durch den Sündenfall im Paradies auch durch den Erlösungstod Jesu am Kreuz noch nicht wirklich überwunden hat. Die Verführung des Menschen, hier auf Erden in „Gut und Böse“ zu denken, scheint auch in der Erklärung der Konzilsväter von der Kirche als Komplexität Widerhall gefunden zu haben. Ist er nicht das Haupt dieser Kirche und sind nicht wir alle ihre Glieder? (Kol 1,18) Heiligt nicht das Haupt den ganzen Leib? Kann es angedacht sein, dass das Haupt den Gliedern des Leibes in einer komplexen Dualität gegenübersteht? Ist der in der Taufe Geweihte ein „Kind Gottes“, der jedoch, der in der Taufe noch nicht zum Priester, König und Propheten gesalbt wurde, ein „Kind des Satans?“117

      Die Komplexität einer verschuldeten oder unverschuldeten Situation mag von manchem Seelsorger als Entschuldigung aufgefasst werden, ein pastorales Gespräch abzukürzen oder sogar zu beenden. Die Zusage Gottes, die er Mose gegeben hat, bleibt aber auch in der Kirche des Neuen Bundes aufrecht: Ich bleibe bei dir (Ex 3,14). Damit weicht die Komplexität des Ich-hier und Dudort und wird zur Schnittstelle einer persönlichen Beziehung zwischen Gott und dem Menschen. Mitgliedschaft in der Kirche setzt die Dualität von Heiligem und Unheiligem oder Profanem außer Kraft. Die Verbannung des Kirchenbildes in die Sphäre einer sichtbar streitenden und damit einer oft sich auseinanderlebenden irdischen Versammlung wird dem Willen genauso wenig gerecht wie ein vergoldetes Kirchenbild, das den Schmutz der mit menschlichen Fehlern gepflasterten Straßen vermeidet (EG 49).

      Ein Blick in den kirchlichen Alltag zeigt, dass manche Gruppierungen die „komplexe Wirklichkeit“ strapazieren und andere wieder aus ihr fliehen wollen. Beide Lager hängen einem Dualismus einer unheiligen weltlichen Versammlung und eines heiligen himmlischen Festmahls an, eines Kirchenbildes, das die Konzilsväter weder gedacht noch beabsichtigt hatten. So negieren die einen die göttliche Wirklichkeit in der menschlichen Gestalt der Kirche und beharren in ihrer Auffassung, dass allem, was auf kirchlichem Boden geschieht, Heiligkeit anhaften muss, so als hätte Jahwe nicht aus einem elenden Dornbusch auf dem staubigen Wüstenboden zu Mose gesprochen, sondern in einem der ägyptischen Tempel. Christliche Überheblichkeit kann der kirchlichen Gemeinschaft genauso wie politische Intoleranz dem Leben der Gesellschaft zur Gefahr werden. Überall dort, wo beispielsweise Bischöfe die universelle Kirche und Bischofskollegen in anderen Ortskirchen zu kritisieren beginnen118, zerfällt die von den Vätern des Zweiten Vatikanums gemeinte „komplexe Wirklichkeit“ der einen Kirche, wird dem Bischofskollegium aber auch als Ganzes seine apostolische Nachfolge abgesprochen.

      Andrerseits begegnet man im kirchlichen Zusammenleben auch Gruppen, die die „komplexe Wirklichkeit“ der Kirche aufs Äußerste herausfordern und die Komplexität dafür verantwortlich machen, dass eben göttliche und menschliche Aspekte in der Kirche ihre eigenen, aber nicht gemeinsamen Wege gehen. Papst Benedikt XVI. erinnert mit seiner Aufforderung an „das missionarische Zeugnis der Entweltlichung der Kirche“ daran, dass der religiöse Mensch das Heilige vor dem Profanen schützen möge.119 In Evangelii gaudium wird ein klares Nein zu einer „spirituellen Weltlichkeit“ gesprochen, die „anstatt die Ehre des Herrn die menschliche Ehre und das persönliche Wohlergehen zu suchen“ (EG 93) strebt.

      Beide päpstlichen Aussagen sprechen sich nicht für eine Aufsplittung der Kirche in untadelig heilige und menschlich fehlerhafte Räume aus, die es nicht gibt. Gott ist in jedem ihrer Räume zuhause und scheut die Nähe zum Menschen nicht, er sucht sie deshalb, um ihm „Weg, Wahrheit und Leben“ zu sein (Joh 14,6). Und wenn dennoch dunkle Räume in der Kirche existieren, dann haben die getauften Menschen selbst die Lichter ausgedreht und sie dunkel gemacht.120 Wahrscheinlich war die Gefahr in der Geschichte der Kirche niemals zu leugnen, sie in unserem vom Platonismus beeinflussten (nicht befruchteten) allgemeinen religiösen Denken als „dual“ zu denken und das Leben in und außerhalb von ihr danach zu gestalten. Die Kirche ist nicht in göttliche und nichtgöttliche Bezirke geteilt, nicht in fane und profane Räume getrennt, nicht in heilige und unheilige Wirklichkeiten gespalten. Selbst an ihren Rändern ist Kirche nicht aggressiv von Nicht-Kirche getrennt.

      Wenn in dieser Studie von Kirche gesprochen wird, ist sie als eine (homogene) von Gott gewollte Kirche gedacht, in der der Herr das Haupt ist und die Getauften der Leib sind, als eine Communio, die mit seiner Begleitung auf dem Pilgerweg ins Reich des Vaters unterwegs ist. So wie es keinen Ort ohne Gottes Gegenwart121 gibt, gibt es auch nach Gottes Willen keine menschliche Communio, in der er nicht anwesend wäre. Mit anderen Worten: Der Herr hat in seiner, in ihm und durch ihn und mit ihm begnadeten Kirche sein immer wieder schwächelndes Geschöpf, den fehlerhaften Menschen „miteinkalkuliert“.

      Es war zunächst Karl Rahner (1904-1984), der schon 1947 in einem später veröffentlichten Vortrag die „Kirche der Sünder“ angesprochen hat.122 Am Beginn seiner Rede erwähnt er die Tatsache, dass sich die katholische Dogmatik meist nur am Rand mit diesem Thema beschäftige, um dann gleich hinzuzufügen: „Es gibt auch wirklich über die Kirche viel Wichtigeres und Herrlicheres zu sagen.“123 Aber Rahner ist sich auch schon Jahrzehnte vor der eigentlichen Aufdeckung massiver, vor allem sexueller und kirchliche Macht missbrauchender Verfehlungen von Seelsorgern und kirchlichen Mitarbeitern klar darüber, dass diese Tatsache im kirchlichen Leben zur alltäglichen Erfahrung geworden ist.124

      Die Sündhaftigkeit der Kirche liegt auch in der Tatsache verborgen, dass sie sich bisweilen zu stolz wähnt, für ihre menschlichen Aktivitäten, die ihr als sichtbare Gemeinschaft (LG 8) obliegen, Hilfe von der säkularen Welt zu akzeptieren. Im Kapitel 40 von Gaudium et spes erinnern die Konzilsväter an „die gegenseitige Beziehung von Kirche und Welt“: „Zugleich ist sie [die Kirche] der festen Überzeugung, daß sie selbst von der Welt, sei es von einzelnen Menschen, sei es von der menschlichen Gesellschaft, durch deren Möglichkeiten und Bemühungen viele und mannigfache Hilfe zur Wegbereitung für das Evangelium