Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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S. Eliot, Clyde Kluckhohn, Adolf Portmann, Christopher H. Dawson und andere, so ist klar zu erkennen, dass dieses vielschichtige und vielgestaltige Thema „Kultur“ Philosophen, Anthropologen, Theologen, Ethnologen und Soziologen seit Jahrhunderten gleichermaßen beschäftigt und in Bann gezogen hat.

      Die explizite und somit systematisch-wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik „Kultur“ hat erst in den letzten hundert Jahren Bedeutung erlangt. Das Brockhaus Konversations-Lexikon in seiner 14. Auflage aus dem Jahr 1894 widmete dem Begriff „Kultur“ lediglich siebzehn Spaltenzeilen und bezeichnet mit dem Wort „teils die Thätigkeit, die auf einen Gegenstand gewendet wird, um ihn zu veredeln oder zu gewissen Zwecken geschickt zu machen, teils den Erfolg dieser Thätigkeit“.176 Wird dort zwar schon von der Kultur des Geistes, der Wissenschaften und Künste und nicht nur von „der Kultur eines Ackers“ gesprochen,177 fehlt auch noch in der 14. Auflage (1929) des großen Konversationslexikons für den englischen Sprachkreis, der Encyclopaedia Britannica, das Stichwort Culture gänzlich.178 Googelt man heute jedoch im worldwide web, so liefert der deutsche Begriff „Kultur“ in 0,46 Sekunden 219,000.000 (in Worten: zweihundertneunzehn Millionen) Ergebnisse179 und das englische „culture‘ in 0,40 Sekunden 1.470,000.000 (in Worten: eine Milliarde vierhundertsiebzig Millionen) Hits.180

      Messner fasst die Wesensbestimmung des Begriffs „Kultur“ mit den Worten zusammen: „Unsere Erörterung des Kulturbegriffs ließ drei Wesenszüge der Kultur erkennen: Kultur ist Lebensform, Ordnung und Aufgabe …“181. Und damit baut er eine Brücke zu dem, was heute wissenschaftlich, aber auch allgemein unter Unternehmenskultur verstanden wird.

      Es ist nicht verwunderlich, dass sich auch die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanums mit dem beschäftigt, was unter Kultur zu verstehen ist, wobei die Konzilsväter am Schluss ihrer Gedanken eine „diakonale Nachhaltigkeit“ alles Wachsens, Schaffens und Denkens für die ganze Menschheit artikulieren (GS 53):

      Unter Kultur im allgemeinen versteht man alles, wodurch der Mensch seine vielfältigen geistigen und körperlichen Anlagen ausbildet und entfaltet; wodurch er sich die ganze Welt in Erkenntnis und Arbeit zu unterwerfen sucht; wodurch er das gesellschaftliche Leben in der Familie und in der ganzen bürgerlichen Gesellschaft im moralischen und institutionellen Fortschritt menschlicher gestaltet; wodurch er endlich seine großen geistigen Erfahrungen und Strebungen im Lauf der Zeit in seinen Werken vergegenständlicht, mitteilt und ihnen Dauer verleiht zum Segen vieler, ja der ganzen Menschheit.

      Organisationskultur, ein Begriff, für den wirtschaftliche Unternehmen den Namen „Unternehmenskultur“ präferieren, ist keine Schöpfung der letzten Jahrzehnte, auch wenn sich die Wissenschaft im Rahmen der Organisationstheorie erst seit etwa hundert Jahren systematisch mit diesem Wissenszweig auseinandersetzt. Eine aktuelle Stichprobe zeigt für den Begriff organizational culture (in englischer Sprache) 22,2 Millionen elektronische Einträge, corporate culture sogar 145 Millionen Hits.182 Soweit die Menschheitsgeschichte dokumentiert ist, wurden die alltäglichen geistigen und physischen Aktivitäten in sozialen Gebilden, sei es in ganzen Staatsgebilden, in öffentlichen Verwaltungen, Kirchen, Klöstern, Verbänden, karitativen Einrichtungen, Universitäten, Unternehmen, etc. im jeweiligen Umfeld stets von Weltanschauungen, Traditionen, Werten, Richtlinien, Überzeugungen, Glaubenssätzen und Haltungen geformt, die ihrerseits von der „übergeordneten“ Gesamtkultur getragen wurden. Für eine Organisation oder Institution, in der von Menschen in sozialer Interaktion etwas unternommen, gepflegt, erneuert, bebaut, erwirtschaftet oder verehrt wird, gilt der Kulturbegriff analog zu dem in der ganzen Gesellschaft, in der diese Organisation verwurzelt und somit eingebettet ist.183

      So wie also eine Analogie zwischen Unternehmenskultur und Gesamtkultur hergestellt werden kann, ist auch beispielsweise eine Analogie der Organisationskultur einer Ortskirche und der regionalen oder nationalen Gesamtkultur, in der diese Ortskirche wirkt, anzunehmen. Die in und nach der III. Außerordentlichen Generalversammlung der Bischofssynode über „die pastoralen Herausforderungen der Familie im Kontext der Evangelisierung“ im Oktober 2014 aufflackernde Diskussion – vor allem über die Themen wiederverheirateter Geschiedener und gleichgeschlechtlicher Beziehungen – haben die kulturellen Unterschiede zwischen „einer“ europäischen und „einer“ afrikanischen bzw. asiatischen Kultur klar zur Sprache gebracht. Die Äußerungen und Schlussabstimmungen vor allem afrikanischer und asiatischer Bischöfe ließen jedoch klar anklingen, dass sie sich nicht von „einer“ europäischen Kultur bevormunden lassen wollten; wobei zu bemerken ist, dass nur bedingt von einer „einen“ europäischen, afrikanischen oder asiatischen Kultur gesprochen werden kann – auch in der Kirche.

      Papst Franziskus ist sich – vielfach intensiver als seine Vorgänger – der bunten kulturellen Vielgestaltigkeit der universalen Kirche bewusst und spricht in Evangelii gaudium vom Volk Gottes als „Volk der vielen Gesichter“ (EG 115). Und in Anlehnung an Augustinus präzisiert er: „Die Gnade setzt die Kultur voraus, und die Gabe Gottes nimmt Gestalt an in der Kultur dessen, der sie empfängt“ (EG 115). Damit festigt er die Prämisse, dass sich die innere Kultur der Kirche, also ihre Organisationskultur, nach dem Willen Gottes nicht von der sie umschließenden Kultur separieren lässt. Zu einer solchen wesensbestimmenden Voraussetzung für einen innerkirchlichen Dialog ist die lernende Kirche allerdings noch unterwegs.

      Der 1928 in der Schweiz geborene Edgar E. Schein, Doyen der Unternehmenskultur, der viele Jahre am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge, USA, Organisationspsychologie und -entwicklung und Management unterrichtet hat, geht in seiner Forschung von einem „wirkmächtigen Erklärungs- und Anschauungsmodell“184 aus, um den Begriff der „Unternehmenskultur“ als die „gemeinsamen, unausgesprochenen Annahmen“ zu definieren, „auf die sich das alltägliche Verhalten [einer bestimmten Organisation] stützt“.185

      In einem praxisorientierten Seminarangebot des deutschen Management Circle wird darauf hingewiesen, dass sich Organisationspsychologie „mit der Schnittstelle Mensch und Organisation“ befasst und „eine Steuerungsfunktion in Sachen Unternehmenskultur und Betriebsklima“ einnimmt.186 Auch wenn darin vor allem die Führungskräfte im Human Resources Management als Zielgruppe angesprochen werden, kann die Verantwortung für organisationspsychologische Belange nicht alleine, vor allem nicht vornehmlich auf Mitarbeiter im Personalbereich eines Unternehmens limitiert werden. Denn Organisationspsychologie schließt alle auf die Person bezogenen Schnittstellen einer Organisation mit ein: beginnend mit der Personalauswahl über die Mitarbeiterführung und -motivation bis hin zu Veränderungsprozessen, für deren tägliche Umsetzung mehr der direkte Vorgesetzte als der Humanressourcen-Manager Verantwortung trägt. Denn: Der Personalchef ist nicht Chef des Personals. In Unternehmen, in denen die funktionalen Führungskräfte der Personalverantwortung entzogen sind und ausschließlich der Personalmanager für die Unternehmenskultur und das positive Betriebsklima verantwortlich zeichnet, mag zwar die theoretisch-wissenschaftliche Basis vorhanden, für den einzelnen Mitarbeiter jedoch die praktische Umsetzung und damit die auf die Person bezogene Glaubwürdigkeit in Frage gestellt sein.

      Organisationswissenschaftlich (und nicht psychologisch, anthropologisch oder wirtschaftswissenschaftlich) beschreibt Schein drei Ebenen der Organisationskultur:187

      (1) die Artefakte, also das von Menschenhand Geschaffene, wie beispielsweise das Logo oder die Produktmarke einer Institution, deren sichtbare Organisationsstrukturen und Arbeitsprozesse, die meistens schwer zu artikulieren oder zu entschlüsseln sind;

      (2) die öffentlich propagierten Werte und Rechtfertigungen, wie etwa Strategien, Ziele oder Unternehmensphilosophien; und

      (3) grundlegende, unausgesprochene Annahmen des Unternehmens, der Institution oder Organisation, wie etwa unbewusste, für selbstverständlich gehaltene Überzeugungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, letztlich die Quelle der Werte des Handelns.

      Um den Zweck einer Gruppe oder einer Organisation sichtbar zu machen und die definierten Ziele zu erreichen, kann Organisationskultur demnach als die komplexe Gesamtheit gemeinsam getragener Grundüberzeugungen, Werte und Einstellungen