Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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der Kirchengeschichte Oberhand gewonnen über das zeugenhafte Leben der ganzen Communio. Weil die westliche Christenheit mehr den Worten mancher Prediger geglaubt hat und weniger das Abbild Jesu im Zusammenleben der Gemeinden sehen wollte, ist die Kirche vor allem von den jüngeren Generationen heute mehr denn je mit der berechtigten Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit konfrontiert. Mit einem Hinweis auf seine Herkunft ruft der Theologe Soares-Prabhu Worte Mahatma Gandhis über „das Evangelium der Rose“ in Erinnerung. Der Hindu-Staatsmann scheute nicht vor klaren Worten für die Christen in Indien zurück: „Ich würde zuallererst vorschlagen, dass ihr Christen, Missionare und alle, beginnen müsst, mehr wie Jesus Christus selbst zu leben.“85 Gandhi ermahnte die Christen immer wieder, dem missionarischen Auftrag Jesu gerecht zu werden: „Sprecht nicht darüber. Die Rose hat ihren Duft nicht zu propagieren. Sie verbreitet ihn einfach und Menschen fühlen sich von ihm angezogen. Sprecht nicht darüber. Lebt ihn [den Duft]. Und die Menschen werden kommen, um die Quelle eurer Kraft zu entdecken.”86

      (4) Die ehrlich und ernst gemeinte Mission der Kirche, die aus ihrer Lebenspraxis fließt, wie sie in der Bergpredigt übermittelt wird, zeigt dem pilgernden Volk den Weg, Gott zu loben und zu preisen (Mt 5,16). Das bedeutet nichts Geringeres, als dass alles Denken und Tun der Jünger Jesu in und für die Kirche, das nicht zur größeren Ehre Gottes führt und Gott in allen Dingen findet,87 unterlassen werden muss: sowohl im persönlichen Leben als auch im Gottesdienst, sowohl in der kleinen Gemeinde als auch in der Universalkirche, sowohl in der Pfarrkanzlei einer kleinen Landpfarre als auch in den prunkvollen Büros der vatikanischen Dikasterien. Dieser Sendungsauftrag ist zu tiefst theozentrisch, nicht ekklesiozentrisch, und auch nicht christozentrisch, wie der Missionsauftrag in Mt 28,19-20 formuliert ist. Die höchste Verwirklichung der Ehre Gottes ist letztlich das Reich Gottes, das damit auch zum letzten Ziel der missionarischen und damit pastoralen Aktivitäten in der Kirche wird. Diese evangelisierenden Tätigkeiten der Kirche und die, die ihn ihrem Namen gesetzt werden, schließen alles kirchliche Tun mit ein, wieweit dieses auch administrativer oder „säkularer“ Natur sein mag. Das Ziel der missionarischen Orientierung kann es somit nicht sein, Kirche im eigenen Umfeld zu pflanzen oder in andere Gesellschaften und Kulturen zu verpflanzen, auch nicht die Welt für Christus zu erobern oder das Wachstum der Kirche voranzutreiben, sondern „vielmehr die Geschichte zu ihrer Vollendung in der vollen Verwirklichung des Reiches Gottes“ zu führen.88

      (5) Die theozentrische Sicht des Sendungsauftrags der Kirche kann für die heute in der industrialisierten Welt des Westens durch endlose interne Skandale in Frage gestellte Kirche eine Chance sein, ihren missionarischen Weg der Evangelisierung mithilfe des pastoralen Kompasses einer Überprüfung zu unterziehen. Der immer bunter werdenden religiösen Gestaltung des säkularen Alltagsszenarios in Europa und Nord-Amerika mag heute der Fokus auf den Schöpfergott mehr bedeuten als der Blick auf die Kirche mit ihren oft unglaubwürdigen und verlogenen Strukturen.89 Die Kirche hier auf Erden ist nicht Ziel des Menschen, vielmehr ist sie mit Jesus als ihrem Haupt der Weg, und niemand kommt zum Ziel, seinem und unserem Vater, außer durch Ihn (vgl. Joh 14,6). Unsere Tage hier auf Erden sind ausgerichtet auf Gott, der alles in allem ist (Röm 11,36; 1Kor 8,6). Wenn immer Klerus oder „Laien“ in ihrem Denken und Tun an den Kirchentoren haltmachen, als wären sie dort schon zuhause, verherrlichen oder verhimmeln sie die Kirche, die ein Symbol ist und eine Dienerin des Reiches Gottes, aber nicht das Reich Gottes selbst ist. Damit aber hätten sie die überwältigende Realität Gottes verloren.90

      Die Betrachtung der Kultur der Kirche, die nach innen und nach außen hin strahlt, wird sich somit sowohl auf die kleinste kirchliche Einheit einer Gemeinde oder Pfarre, sowie auf die jeweilige Ortskirche, aber auch auf die universelle Kirche beziehen müssen. Denn, gleichgültig ob örtlich eingegrenzte Pfarre oder bischöfliche Ortskirche, sind sie Teile der universalen Kirche, die wieder nicht ohne diese in Christus gegründet ist. Den missionarischen Auftrag, Salz der Erde und Licht der Welt zu sein, können weder die Ortskirchen ohne die Weltkirche noch die Weltkirche ohne Ortskirchen erfüllen. Die Teilkirchen sind nach dem Bild der universalen Kirche gestaltet (LG 23) und „in ihnen und aus ihnen besteht die eine und einzige katholische Kirche“.91

      In globalen Wirtschaftskonzernen werden sich deren regionale Tochterunternehmen in ihren Organisationsstrukturen und -kulturen oft von denen „ihrer Mutter“ signifikant unterscheiden. Betrachtet man jedoch beispielsweise Ortskirchen in Europa oder Afrika, sind bei diesen trotz kultureller Unterschiede im weitesten Sinn des Wortes die Grenzen viel enger gezogen. Einfach deshalb, weil sowohl Ortskirchen als auch die universale Kirche gemeinsam nur ein einziges Haupt haben, Jesus Christus (vgl. Kol 1,18), und sie beide deshalb nicht ohne die jeweils andere auf ihrem Pilgerweg unterwegs sein können.

      Beginnend im frühen Christentum und mit den alten Kirchenvätern haben sich unterschiedliche, oft im Alten Testament verwurzelte Bilder der Kirche entwickelt,92 die das Leben ihrer Mitglieder sowohl in der Familie als auch in ihrem bäuerlichen Alltag begleitet haben: Leib Christi (1Kor 12,12-27; Kol 1,27), Volk Gottes (2Kor 6,16; Offb 21,3), Stadt Gottes (Offb 3,12; 20,9; 21,23), Reich Gottes (Joh 3,3.5), Herde Gottes (Apg 20,28; 1Petr 5,2; vgl. auch Jes 40,11; Ez 34,11-22), Schafstall mit Christus als einzige und notwendige Türe (Joh 10,110), Pflanzung, Ackerfeld Gottes und Bau Gottes (1Kor 3,9), Weingarten (Mt 21,33-43; vgl. Jes 5,1-7), Weinstock (Joh 15,1-5), Haus Gottes (1Tim 3,15), Wohnung und Zelt Gottes unter den Menschen (Eph 2,22; Offb 21,2), Familie Gottes (Eph 2,19), Zelt Gottes unter den Menschen (Offb 21,3), Tempel Gottes (1Kor 3,16.17; 2Kor 6,16; Eph 2,21), Frau mit der Sonne bekleidet (Offb 12), Braut Christi (Off 21,2.9).

      Alle diese neutestamentlichen Bilder oder Symbole für die Kirche können letztlich das Mysterium der Kirche nicht zur Gänze in ihrer vielfältigen Wirklichkeit beschreiben. Sie stehen auch „nicht im Gegensatz zueinander, sie sind auch nicht austauschbar und können sich nicht ersetzen“.93 Was jedoch auffällt, ist der dynamische Charakter, der in den meisten dieser Symbole zum Ausdruck kommt und ein Wesensmerkmal dieser lebensnahen Bilder ist: das Wachstum des menschlichen Leibes, der Pflanzen auf dem Acker und im Weinberg; das Haus, das zunächst gebaut, dann aber ständig gepflegt werden muss; die Schafherde, die tagsüber auf der Weide nach Nahrung sucht und sich abends in ihren Stall zurückzieht; die Gemeinschaft der Familie, in der sich Frau und Mann in Liebe finden, um darin gemeinsam zu wohnen und Kindern das Leben zu schenken; das Volk Gottes, das auf oft staubigen Straßen zum himmlischen Jerusalem unterwegs ist. Diese symbolischen Bilder der Kirche entbehren jeder räumlichen und zeitlichen Statik, sie demonstrieren existenznotwendige Veränderung, Wandel, Bewegung, Entwicklung und Wachsen sowohl im sozialstrukturellen als auch im kulturellen Zusammenleben der Kirche als Communio.

      Beispielshaft soll hier mit den biblischen Gedanken von Walter Kardinal Kasper der dynamische Wandel im Symbol der Kirche als Volk Gottes, einem der am meisten verwendeten, jedoch nicht selten auch einseitig interpretierten Kirchenbilder, beleuchtet werden.94

      Der griechische Text des Neuen Testaments verwendet für das Volk Gottes den heilsgeschichtlichen Begriff λαóς und nicht den soziologischvölkischen Begriff δῆµoς, der auch die Wurzel für das Wort „Demokratie“ bildet; λαóς ist auch nicht einfach das Volk, sondern das von Gott auserwählte und begleitete Volk, ganz im Unterschied zu έθvoι, den heidnischen Völkern.

      Gott ruft Abraham: „Zieh weg aus deinem Land, von deiner Verwandtschaft und aus deinem Vaterhaus in das Land, das ich dir zeigen werde. Ich werde dich zu einem großen Volk machen, dich segnen und deinen Namen groß machen. Ein Segen sollst du sein. Ich will segnen, die dich segnen; wer dich verwünscht, den will ich verfluchen. Durch dich sollen alle Geschlechter der Erde Segen erlangen“ (Gen 12,1-3). Mit dieser Aufforderung hat Gott eine Dynamik stellvertretend in die Sippe Abrahams gelegt, die alle Völker dieser Erde berührt bis zur eschatologischen Zielerreichung im himmlischen Jerusalem.

      Am brennenden Dornbusch verheißt Gott Mose, dass er der ist, der da ist für das Volk und mit dem Volk ist (Ex 13,14). Im Laufe der Geschichte wird Gott seinem Versprechen treu bleiben, auch in Zeiten der Untreue seines Volkes. Gott weitet seine Verheißung