Das Antlitz der Kirche, wie es den Konzilsvätern in den 60er-Jahren des vorigen Jahrhunderts aufgeleuchtet hat, das dann jedoch immer mehr verblasste, hat sich mit der Wahl von Jorge Mario Kardinal Bergoglio am 13. Februar 2013 schlagartig geändert. Im Scheinwerferlicht der kirchennahen und kirchenkritischen Medien tritt sie nicht mehr unbedingt als triumphale Kirche auf, sondern als Kirche der Bescheidenheit, Einfachheit und Transparenz; als Kirche mit der pastoralen Fähigkeit, Menschen an die Hand zu nehmen und sie auf dem gemeinsamen Weg zu begleiten; als Kirche mit der Fähigkeit und dem Willen, Menschen und nicht nur Katholiken zuzuhören; als Kirche, die arm sein möchte unter Armen; als Kirche des einen Gottes, der ein Gott der Überraschungen ist.161 Manche Medienstimmen bezeugen Papst Franziskus auch, dass er uns die Kirche zurückgebracht hätte,162 und meinen damit offensichtlich, dass wir nach so einigen Ab-, Um- und Irrwegen in den vergangenen 2000 Jahren die ursprüngliche Vision Jesu und seiner jungen Kirche wieder entdecken dürfen, ohne sich allerdings auf diesem Weg zurück zu den Quellen in einen kirchen-zentrischen Kokon zurückzuziehen.
Die Kirche, die Franziskus mit seinen Worten, Gesten und Taten verkündet, ist eine Kirche der unermüdlichen „Dynamik des ‚Aufbruchs‘“ (EG 29). Gott ist der, der den Gläubigen bewegen will, der ihn sendet, und der sich dann mit ihm auch auf den Weg macht. Gott ist nicht der, der die Initiative ergreift, den Menschen dann aber allein auf den Weg schickt. Der missionarische „Aufbruch“, zu dem Gott alle Gläubigen ruft, ist nicht eine individuelle Expeditionins Ungewisse, sondern „stellt sich wesentlich als missionarische Communio dar“.163
Die Dynamik des durch Zeit und Raum wandernden Volkes Gottes beschreibt Franziskus mit fünf Verben, also Worten, die menschliche Aktivität ausdrücken: Initiative ergreifen und auf den anderen zugehen, sich einbringen und den Fremden mit einbeziehen, die Menschheit in allen Lebenssituationen begleiten, Frucht bringen, auch wenn Unkraut aufkeimt, und jeden kleinen Erfolg gemeinsam feiern (EG 24). Wenn Staaten, Gesellschaften oder Organisationen ihren Lebensraum behaupten wollen und ihren Weg in die Zukunft einfrieren, dann hemmen sie menschliche und soziale Reifung.164 Analog gilt das auch für eine Kirche, die ihr im Raum der Tradition Erworbenes nicht überdenken möchte und den Blick in die Zukunft gar nicht wagt. In der menschlichen Gesellschaft gebiert das Einfrieren von Raum und Zeit Krieg,165 in der Kirche wächst in einem solchen Szenario der Bewegungslosigkeit Unfriede zwischen Schwestern und Brüdern der gleichen Familien.
Papst Franziskus verwendet für seine Kirche kräftige Worte, die sowohl von den Medien als auch von den Menschen inner- und außerhalb der kirchlichen Communio eher verstanden werden als manche Fachsprache der Theologen oder die teilweise unverständliche Sprache liturgischer Bücher. Er spricht vom „Geruch der Schafe“ (EG 24), den die Evangelisierenden an sich haben sollen. Dieser Geruch der Hirten macht die Schafe zu Auf-sie-Hörenden, zu Ihnen Folgenden, zu Sie-riechen-Wollenden.
Die Klage vieler Glaubenden über die schwindende Zahl der Kirchenbesucher muss den Schluss zulassen, dass die Menschen für die Kirche da sein müssten, und nicht die Kirche für die Menschen.166 Dem bisweilen auch von Bischöfen vorgebrachten Argument, dass die Anzahl der Priester für die wenigen Glaubenden so und so genug sei, fehlt ebenso die evangelisierende Dynamik, die von der Kirche gefordert wird (EG 27):
Ich [Papst Franziskus] träume von einer missionarischen Entscheidung, die fähig ist, alles zu verwandeln, damit die Gewohnheiten, die Stile, die Zeitpläne, der Sprachgebrauch und jede kirchliche Struktur ein Kanal werden, der mehr der Evangelisierung der heutigen Welt als der Selbstbewahrung dient.
Am Beginn der vorösterlichen Bußzeit 2015 zog sich Papst Franziskus mit 70 Kurienmitarbeitern zu Exerzitien nach Ariccia in die Nähe Roms zurück. Am vierten Tag der geistlichen Übungen meldete sich Pater Diego Fares, ein argentinischer Jesuit, im Radio Vatikan über seinen geistlichen Lehrer und Mitbruder im Petrusamt zu Wort. In dem Interview nannte er Franziskus einen „Meister der Spiritualität“. Pater Fares erläuterte, dass die Exerzitien die wahre DNA der Jesuiten seien und er viel davon halte, dass sich der Papst gemeinsam mit seiner vatikanischen Kurie aus Rom wegbegebe, auch wenn jeder für sich selbst die geistlichen Übungen mache. Papst Franziskus tue das, so Pater Fares, „was wir in der Gesellschaft Jesu [dem Jesuitenorden] ‚geistliche Leitunga‘ nennen: ein Leitungsstil, der nicht nur darauf achtet, was man machen muss, sondern auch darauf, wie man es macht.“167 Das Wie-man-es-macht ist ein anderer, weniger wissenschaftlicher, aber umso praktischerer Ausdruck für den Begriff „Organisationskultur“. Der argentinische Jesuit, der von Pater Bergoglio gelernt hat, „wie man andere in Exerzitien begleitet“,168 fasst in einfachen und pastoral verständlichen Worten zusammen, wie Organisationskultur in der Kirche definiert und diese, wenn notwendig, verändert werden kann: und zwar wie das Volk Gottes auf dem gemeinsamen evangelisierenden Weg zu seinem letzten und einzigen Ziel unterwegs ist oder sein möchte, ohne dabei freilich die strukturellen Aspekte der globalen Kirche und der Ortskirchen aus dem Auge zu verlieren.
Auf die Frage des mexikanischen Fernsehjournalisten nach der Kurienreform der Kirche spricht Franziskus Klartext: „Jeder Wechsel beginnt mit dem Herzen: mit der Bekehrung des Herzens … und auch mit einer Bekehrung der Lebensweise. […] Es geht um Umkehr, beim Papst angefangen, er ist natürlich der erste, der umkehren muss, nicht?“169 Mit dieser Auffassung widerspricht er allen denen, die meinen, dass die Kurienreform lediglich die „verschiedenen Strukturen auf ihre Effizienz zu überprüfen“170 hat. Er spricht vielmehr einen kulturellen Wandel an, der als Grundvoraussetzung einer Reform der kurialen Strukturen angesehen werden muss.
Zusammenfassend muss aufgrund einer gegenseitigen Durchdringung (Perichorese) zwischen Welt- und Ortskirche der vorliegenden Studie das Recht, ja sogar die Verpflichtung eingeräumt werden, nach dem „Gegenstand“ der Kirche sowohl als Subjekt als auch als Objekt auf ihre existentiell- und praktisch-theologische Ganzheit hin zu fragen. Das empirisch konzipierte 6. Kapitel fokussiert allerdings nicht die universale, sondern zwei ausgewählte diözesane Ortskirchen Österreichs.
2.2 Was ist Kultur?
In den zahlreichen Definitionen des weiten Begriffs „Kultur“171 scheint beim ersten Hinsehen bisweilen wenig Übereinstimmendes zu finden sein. Was diese wissenschaftlichen und populär-wissenschaftlichen Versuche alle nicht leugnen können und somit gemeinsam haben, ist die lateinische Wortwurzel colere, was nicht weniger bedeutet als „bauen, bebauen, bearbeiten, für etwas Sorge tragen, bewohnen, ansässig sein, verpflegen, schmücken, verehren, heilig halten“.172
Es ist nicht Aufgabe der vorliegenden Studie, den Kulturbegriff als solchen, d.h. philosophisch, anthropologisch, ethnologisch, soziologisch, biologisch oder in einem engeren Sinn zu analysieren. Der Fokus liegt auf dem Begriff „Organisationskultur“, der den Blick auf die „Kultur“ zwar mit einschließt, diese jedoch im Kontext menschlicher Organisationen betrachtet. Zudem werden Kulturdebatten ständig von neuen Typologien und unterschiedlichen Kulturbegriffen getragen, wie sie beispielsweise der Kulturwissenschaftler Andreas Reckwitz aufzeigt: einen normativen Kulturbegriff (von Cicero bis Alfred Weber), einen totalitätstheoretischen (von Johann Gottfried Herder bis zur aktuellen Ethnologie), einen differenztheoretischen (von Friedrich Schiller bis Talcott Parsons) und einen bedeutungs- und wissensorientierten Kulturbegriff (von Ernst Cassirer über den amerikanischen Pragmatismus bis heute).173 Die vielfältigen Typologien und Definitionen von „Kultur“174 werden in den meisten Gesellschaften jedoch durch ähnliche, zumindest vergleichbare Wesensinhalte definiert: Es geht um kollektiv programmierte Denk- und Verhaltensmuster, um von einer sozialen Gruppe (mehr oder minder) akzeptierte Werte und Normen des täglichen Lebens, die aus der Vergangenheit tradiert sind und für die Lösung zukünftiger Probleme und die Bewältigung kommender Herausforderungen bewusst oder unbewusst herangezogen werden.
Johannes Messner (1891–1984), Theologe, Rechtswissenschaftler und Politiker, antwortet in seinem 1954 erschienenen Werk „Kulturethik“ auf die Frage, was Kultur ist: „… offenbar das, worin der Mensch die Vollentfaltung des wahrhaft Menschlichen findet“.175 Ruft man sich große Denker ins Gedächtnis,