Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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Dieser Kόσµoς wird ikonographisch als gekrönter Herrscher im Zentrum des offenen Halbkreises der zwölf Männer dargestellt; somit wird er von den Zeugen des Geistes Gottes als Ziel ihres gemeinsamen Handelns angesprochen.

      Ein Blick auf die Runde der anwesenden Gestalten zeigt deutlich, dass es sich bei der Pfingstikone der Ostkirchen nicht um eine bildliche Darstellung eines historischen Ereignisses handelt, sondern um eine Wesensaussage über unsere Kirche.59 Paulus sitzt Petrus gegenüber und nimmt somit einen wichtigen Platz in dieser „ersten Kirche“ der Zwölf ein, die in ihrer Einheit und Geschlossenheit auf das ganze Volk Israel, repräsentiert durch die zwölf Stämme Israels, hinweisen und somit die Ganzheit der Kirche abbilden. Lukas erwähnt am Beginn seiner Apostelgeschichte die Anwesenheit von Maria, der Mutter Jesu, mit den Frauen und seinen Brüdern, die alle „dort einmütig im Gebet“ verharrten (Apg 1,14). Auffallend ist, dass die Ikonenmaler die Frauen der Jerusalemer Gemeinde in den allermeisten Fällen aus dem Geburtsbild der Kirche ausschließen.

      Für die Thematik der Verhaltens- und Handlungsweisen der Mitglieder der „ersten Kirche“ am jüdischen Fest Schawuot, dem nun christlichen Pfingstfest, scheint neben der „demokratischen“ Sitzordnung60 der Jünger auch deren Körpersprache betrachtenswert: Einige von ihnen blicken den Betrachter oder die Bildbetrachterin an, andere suchen im offenen Halbkreis sitzend mit ihren Augen ihr Gegenüber und wieder andere richten ihren Blick nach außen, d.h. auf die Welt, die ihren offenen Halbkreis umschließt.

      Die ostkirchliche Pfingstikone der „ersten Kirche“ kann uns somit in vielfacher Hinsicht Wegweiser in die pastoral-orientierte Kirche von heute sein:

      (1) Letztverantwortlicher des pastoralen Zielstrebens der Kirche ist und bleibt auf ihrem Weg durch Raum und Zeit Jesus Christus.

      (2) Die synodale Struktur der Kirche verweist auf Christus und verherrlicht nicht den Jünger oder die Jüngerin. Gottes guter Geist ist Garant für das Wirken der Kirche nach innen und außen hin.

      (3) Die Gemeinschaft der Kirche unter Führung der Apostel und ihrer Nachfolger muss ihren Alltag durch den Blick auf ihr Zentrum reinigen, um nach außen hin, der Welt und dem ganzen Kosmos gegenüber, immer wieder glaubwürdig werden zu können. Das ist eine reifende Entwicklung, nicht aber ein schon zu Pfingsten abgeschlossener Prozess.

      (4) Die Fähigkeit des ganzen Volkes Gottes aufeinander zu hören, miteinander in einen Dialog zu treten, einander zu verstehen und andere für das Evangelium zu gewinnen, ist wesentlich von der Erkenntnis Gottes als Geber alles Guten und dem einmütigen Lob und Dank der ganzen Gemeinde abhängig.61

      (5) Kirche vollzieht sich immer in einer zweifach ausgerichteten Verhaltensweise des von ihr angesprochenen Menschen: in der Beziehung zu Gott und in der Beziehung zum Menschen, gleichgültig ob sich dieser im innersten Kreis geborgen weiß oder außerhalb der vertrauten Gemeinschaft lebt.

      (6) Das Bild der beiden Apostel Petrus und Paulus, die einander gegenübersitzen, versinnbildlicht die felsenfeste Gegründetheit der petrinischen Kirche auf der einen Seite in der Tradition Christi und auf der anderen Seite im Bestreben des Paulus, sie als Gemeinschaft aller Völker in die Freiheit vom Gesetz zu führen.62 Der authentischen Verkündigung des Lebens und der Worte Jesu Christi, dass wir alle Kinder des Vater sind, muss stets ein „Exodus“ aus unserer eigenen Enge vorausgehen, d.h. „wir müssen aus unseren Maßstäben und unseren begrenzten Vorstellungen herauskommen, um in uns Platz zu machen für die Gegenwart Gottes.“63

      Die Theologie der ostkirchlichen Pfingstikone weist gewissermaßen auf das Zusammenspiel von Strategie, Struktur und Kultur einer menschlichen Gemeinschaft hin,64 die von Gottes Willen getragen ist: Die Strategie der Kirche ist auf Gott, den Herrn, hin ausgerichtet; die Struktur der Kirche ist hierarchisch und synodal zugleich auf die Welt fokussiert; und zuletzt ist ihre Kultur in ihrer Offenheit von konkreten Menschen geprägt, zugleich aber fest verankert im auferstandenen Herrn. Mit dem Blick auf das Bischofsamt weist die Ikone in aller Deutlichkeit darauf hin, dass die Bischöfe nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil keine Präfekten mehr sind, „die die Weisungen eines päpstlichen Monarchen umsetzen, sondern Apostel, die gemeinsam mit dem Papst für die ganze Kirche verantwortlich sind.“65

      Die Überschrift dieses Absatzes lässt leicht vermuten, dass es sich um einen Gedanken von Papst Franziskus handelt, der ja schon öfters von den Seelsorgern, besonders von den Bischöfen gesprochen hat, die den „Geruch der Schafe“ an sich haben sollten (EG 24). Am 3. März 2015 schrieb er anlässlich des hundertjährigen Bestehens der Theologischen Fakultät der Katholischen Universität Argentiniens in einem Vorort von Buenos Aires einen Brief an Kardinal Mario Aurelio Poli, seinen Nachfolger als Erzbischof der Hauptstadt und als Großkanzler der Universität. In diesem Schreiben entwirft Franziskus ein Leitbild der Theologie, das von Radio Vatikan mit seinen eigenen Worten „Nicht nur am Reißbrett“ betitelt wurde.66 Es verwundert viele und beeindruckte manche, dass er selbst im Gegensatz zu seinem Vorgänger Benedikt XVI. kein abgeschlossenes Doktorat, sondern „nur“ ein Lizentiat hat, aber theologisches Studium und Forschung mit didaktischer Vision auf die Ganzheit des Menschen bezieht: „‚Man lernt fürs Leben‘, schreibt der Papst, denn: ‚Theologie und Heiligkeit sind ein unauflösliches Binom‘.“67 Pastorale Kompetenzen mögen an einer Universität erlernbar sein, glaubhaft zu leben sind sie nur auf den Straßen des menschlichen Alltags.

      Theologie als Beschäftigung mit Offenbarung und Tradition hat auch die Verpflichtung, die unterschiedlichsten Entwicklungen der Welt zu begleiten und sich vor allem der Konflikte anzunehmen, die sowohl innerhalb der Kirche als auch in der Welt schwelen. Das kritische Wort des Papstes vom „Theologen am Reißbrett“ wird wohl nicht bei allen Professoren Anklang finden, aber er spricht es dennoch aus und fügt die ermahnenden Worte hinzu:68

      Euer Ort des Nachdenkens sollen die Grenzen sein. Und tappt nicht in die Versuchung, sie zu lackieren, zu parfümieren, sie ein wenig aufzuhübschen und zu zähmen. Auch die guten Theologen riechen, so wie die guten Hirten, nach Volk und nach Straße und salben Wunden der Menschen mit Öl und Wein.

      In seinem Brief an Kardinal Poli kommt Papst Franziskus dann noch mit markig poetischen Worten auf das Profil des zukünftigen professionellen Theologen zu sprechen: „Sicher kein Museumsdirektor, […] Intellektueller ohne Talent, kein Ethiker ohne Güte oder ein Bürokrat des Heiligen.“ Es geht letztlich um den Aufbau der Menschlichkeit und die Vermittlung „göttlich christliche[r] Wahrheit in einer wahrhaft menschlichen Dimension“.69 In den Branchen der Wirtschaftswissenschaft und Betriebswirtschaft hießen diese Worte nichts anderes als die Gestaltung eines menschennahen und menschenfreundlichen Betriebsklimas oder – mit anderen Worten – einer Unternehmenskultur, die positiven Einfluss auf alle internen und externen Stakeholder70 ausübt.

      Während sich Wirtschaftsunternehmen vielfach wohl bewusst sind, dass es keine richtige oder falsche Organisationsstruktur gibt, sondern für jede Lebensphase des Unternehmens nur eine einzige Struktur die richtige sein kann, und zwar die, welche das Unternehmen unter Berücksichtigung des vielfach zitierten Wertes des „Mitarbeiters als Mittelpunkt“ im speziellen Umfeld zum nachhaltigen Erfolg führt, hat die Kirche vielfach durch Jahrhunderte hindurch im guten Glauben, sich stets auf dem richtigen Weg zu befinden, auf gewachsenen Traditionen gebaut, ohne in manchen Fällen auf das ihr Zielstreben begleitende kulturelle Umfeld zu achten, und ist damit Gefahr gelaufen, Strukturen unbewusst, aber oft auch bewusst zu versteinern. Es war das erste tatsächlich pastorale Konzil, nämlich das Zweite Vatikanum, kaum zwei Jahrzehnte nach Ende einer weltweiten Schreckensnacht der Menschheitsgeschichte, das mit der „Pastoralen Konstitution Gaudium et spes über die Kirche in der Welt von heute“ neue Wege eines gegenseitig befruchtenden Zusammenlebens von Kirche und Welt beschritten hat. Dass dieser pastoral-ekklesiologische Paradigmenwechsel in der Arbeitswelt gleichsam parallel zum sicher nicht konsequenten Abschied vom Taylorismus, der das System und nicht den Menschen in den Mittelpunkt der Organisation stellt, und zum Entstehen der Human-Relations-Bewegung vor sich ging, mag für den Historiker in Wirtschaft und Kirche kaum überraschend sein.71

      Visionsdefizit