Organisationskultur der katholischen Kirche. Paul F. Röttig. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Paul F. Röttig
Издательство: Bookwire
Серия: Studien zur Theologie und Praxis der Seelsorge
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783429063337
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lieben, damit euer Herz gefestigt wird und ihr ohne Tadel seid, geheiligt vor Gott, unserem Vater, wenn Jesus, unser Herr, mit allen seinen Heiligen kommt.

      Mit diesem Maßstab des persönlichen Wachsens in Liebe zu Gott und zu einander, das ihm zum Fundament jeder Gemeindeentwicklung wird, geht Paulus an seine pastorale Arbeit heran. Er bringt das Samenkorn in seinem Reisegepäck und pflanzt es in die Erde der jungen Gemeinde, überlässt jedoch das Wachstum – wohlgemerkt unter seinem wachsamen Auge – jenen, denen er das Wort vom Reich Gottes anvertraut hat.

      In der Wirtschaft durchläuft jedes Unternehmen verschiedene Phasen, vom Wachstum über die Blüte bis hin zum Scheitern oder zur Übernahme durch ein anderes Unternehmen, das näher am Kunden geblieben ist als es selbst. Im Gegensatz zur Welt kann jedoch die Kirche Jesu Christi von den Mächten dieser Welt – heute könnte man auch sagen: von den Mächten ihrer materiellen und immateriellen Märkte – nicht überwältigt werden (Mt 16,18). Dieses Versprechen Jesu ist einerseits eine vom Vertrauen getragene Sicherheitsklausel, kann das Schiff der Kirche aber auch nahe an gefährliche Klippen herantragen, wenn ihre Mann- oder „Frauschaft“ gegen den Geist Gottes segelt. Dann hilft nur mehr sein Steuermann, der einzig und alleine Jesus ist.

      Identität – ein Grundanliegen der frühen Christengemeinden

      Der konstruktive Wille der frühen Christengemeinden, Communio mit Christus und Communio mit den Menschen in ihrem Leben zu begründen, ist in der Spiritualität des letzten Beisammenseins Jesu mit seinen Jüngern begründet (vgl. Joh 13, 1-20). Während die Synoptiker ausführlich über das Mahl berichten (Mt 26,20-29; Mk 14,17-25; Lk 22,14-23), erwähnt das Johannes-Evangelium dieses nur sozusagen vorübergehend mit den Worten: „Es fand ein Mahl statt [… und er] stand vom Mahl auf …“ (Joh 13,2.4), fügt aber das Sondergut der Fußwaschung ein (Joh 13,1-20). Glaubhaft können die Hinwendung zu Gott und die Vereinigung mit ihm in der Liturgie nicht ohne Hinwendung zum Mitmenschen und ohne Verneigung vor ihm erfolgen. Die Spiritualität der Kirchen des Ostens spricht von einer „Liturgie nach der Liturgie“53 mit der Hoffnung, aus dem irdischen Szenario mit Hilfe der fürbittenden Heiligen, die im byzantinischen Ritus auf der Ikonostase dargestellt sind, einmal zum Festmahl im himmlischen Jerusalem gelangen zu können.

      Die Urkirche lebt diese Spiritualität des Gottes- und Menschendienstes aufgrund des authentischen Zeugnisses der Aposteln, vor allem des Paulus, von dessen Denken und Tun für die Kirche heute dank seiner Briefe und der Apostelgeschichte mehr tradiert ist als von allen anderen Aposteln, die zum engsten Freundeskreis Jesu gehörten. Nach seiner Jesus-Begegnung vor den Toren von Damaskus (Apg 9,3-8) und seiner „Aus-Zeit“ in der Wüste (Gal 1,17) war Paulus ständig „ohne abgehobene Kirchentheorie“ und „ausgeklügelten Pastoralplan“54 unterwegs, um neue Gemeinden zu gründen. Um diese Aufgabe des erfolgreichen Gemeindeaufbaus von Paulus verstehen zu können, sind Grundwerte und Verhaltens- und Handlungsmuster, also seine „missionarische oder evangelisierende Kultur“ zu hinterfragen. Im 1. Korintherbrief fasst der Apostel seine Erkenntnis für eine gedeihliche Zusammenarbeit in der Gemeinde zusammen: „Denn wir sind Gottes Mitarbeiter; ihr seid Gottes Ackerfeld, Gottes Bau“ (1Kor 3,9). Er schließt niemanden von der Mitarbeit am Aufbau des Reiches Gottes aus und vergleicht die christliche Gemeinschaft (1) mit einem Acker, auf dem nicht nur Korn wächst, sondern auch andere Pflanzen, und (2) mit einem aus Steinen zusammengefügten Bau. Ein paar Zeilen später erinnert Paulus seine Gemeinde daran, dass diesem Bau etwas Heiliges anhaftet, denn er sei Tempel Gottes, in dem der Geist Gottes wohnt (1Kor 3,16).

      Anders als die mythologische Begrifflichkeit der griechischen und römischen Götterstätten baut der neutestamentliche, im letzten christologische Tempelbegriff auf den geschichtstheologischen Ereignissen des Alten Testaments auf: Im Haus Gottes wird seiner Heilstaten, d.h. der Rettung Israels gedacht und das vollzogen, was Jesus den Jüngern bei seinem Abschied im Obergemach aufgetragen hat. Jedoch bleibt das nicht nur bloße Erinnerung, sondern wird von der Gemeinde immer neu als Communio erfahren55, an der alle zum Mitbauen nicht nur eingeladen, sondern eben verpflichtet sind. Paulus erinnert die Gemeindemitglieder in Korinth daran, dass sie eine Leistung erbringen müssen. Gott hat in Christus das Fundament der Kirche gelegt und auf diesem einen Fundament sind alle Mitglieder des Volkes Gottes gleichsam als „ARGE Kirche“ zur Mitgestaltung eingeschworen. Der Tempel der Kirche ist eine ewige Baustelle und wird es für alle Zeiten bis zur ihrer Ankunft beim Vater bleiben. Söding erinnert daran, dass das Fundament unverrückbar ist:56

      Es ist von Gott selbst gelegt. Dazu bedient er sich des Apostels [in diesem Kontext des Apostels Paulus]. Deshalb ist es sein „Amt“, das Fundament zu legen; das ‚Amt‘ aller Christen aber ist es, am Haus des Glaubens weiterzubauen – auf dem Fundament Jesu Christi und mit möglichst guten Materialien. Nicht nur einige wenige Experten sind die berufenen Bauleute, sondern alle Christen – mit ihren je spezifischen Fähigkeiten und Fertigkeiten.

      Vielleicht greift Söding mit seiner Aufforderung nach der Qualität der Materialien für den Tempel des Geistes Gottes hier sogar etwas zu kurz.

      Erstens: Das Haus Gottes mit „möglichst guten Materialien“ zu bauen kann nicht genügen, es müssen die besten Materialien sein, die wir uns als Menschen für diesen Bau leisten können. Ohne jene Menschen, welche am Rand der Gesellschaft stehen, zu vergessen, müssen sich auch die Mitglieder der Kirche immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass sie sich nur das leisten können, was sie selbst leisten. In anderen Worten: Wenn nur Ausschuss-, Abbruchs- und Secondhand-Material in die Kirche investiert wird, darf es nicht verwundern, dass ihre Mauern zu bröckeln beginnen. Es gibt wohl keine säkulare Organisation, die nicht nach den bestgeeigneten Mitarbeitern sucht. Und sollte diese Qualitätslatte da und dort nicht gelegt werden können, werden wahrscheinlich zu Recht ethische Argumente zugrunde liegen. Und dennoch die Frage: Warum sollte sich die Kirche, die ja Tempel des Geistes Gottes ist, „im Normalfall“ nicht nach den besten „Materialien“ umsehen?

      Zweitens: Fertigkeiten und Fähigkeiten sind in der kirchlichen Mitgestaltung, die ja allen Getauften obliegt, wohl nicht ausreichend genug, um Jesu Sendungsauftrag weiterzutragen. Dazu gehören neben den richtigen christlichen Glaubensüberzeugungen und Wertvorstellungen auch integrierendes Wissen, wesentlich jedoch auch Verhaltensformen und Denk- und Verhaltensweisen, die das Leben Jesu authentisch widerspiegeln.

      Die (im 5. Kapitel näher erläuterten) sechs Dimensionen einer Organisationskultur – Steuerung oder Führung, Kommunikation, Leistung, Vertrauen, Wachstum und Identität – sind keineswegs Errungenschaften des 20. Jahrhunderts. Ohne im Zusammenhang mit der Thematik dieser Arbeit in exegetische Tiefen vordringen zu können, ist der Versuch gewagt worden, an Hand einiger exemplarisch ausgewählter biblischen Stichproben den pastoralen Hintergrund einer Organisationskultur des pilgernden Volkes Gottes anzudeuten; pastoral deshalb, weil jedwedes menschliche Tun oder Unterlassen in der Kirche direkte oder indirekte Auswirkungen auf den Weg des Gottesvolkes durch Raum und Zeit hat.

      In der sogenannten Pfingstikone verbildlichen die Ostkirchen, besonders die orthodoxen Kirchen des byzantinischen Ritus, die Geburtsstunde der Kirche Jesu Christi. Dabei geht es nicht um eine historische Berichterstattung, sondern um eine fundamentale Aussage über die Kirche.57 Ursprung und Ausgangspunkt des pfingstlichen Szenarios ist der auf alle und alles herabschwebende Heilige Geist Gottes, der seit dem Frühchristentum bis herauf in unsere Zeit nach dem Bericht der Taufe Jesu im Jordan in allen vier Evangelien (Mt 3,13-17; Mk 1,911; Lk 3,21-22; Joh 1,29-34) in Gestalt einer Taube dargestellt ist.58 Unter dem Bildnis des Geistsymbols scharen sich um einen zentralen leeren Thronsessel zwölf Männer, die von Gottes liebendem Geist die Botschaft erhalten, dass sie und mit ihnen alle Menschen durch Jesus Christus erlöst und zum Leben in Gott berufen sind. Anders als die tradierte Darstellung des Heiligen Geistes als Taube wird sein göttlicher Atem nicht in Form von brennenden Zungen (Apg 2,3-4) abgebildet. Das Geist-Feuer tragen die zwölf Männer in ihren Herzen.

      Petrus, der gemeinsam mit Paulus dem leeren Thron, der alleine für den Herrn reserviert ist, am nächsten sitzt, wird diese Frohbotschaft den Besuchern Jerusalems aus dem gesamten damals bekannten Erdkreis