Die Geschichte wird die letzteren [jene, die nicht die menschliche Fülle aufbauen] vielleicht nach jenem Kriterium beurteilen, das Romano Guardini dargelegt hat: ‚Der Maßstab, an welchem eine Zeit allein gerecht gemessen werden kann, ist die Frage, wie weit in ihr, nach ihrer Eigenart und Möglichkeit, die Fülle der menschlichen Existenz sich entfaltet und zu echter Sinngebung gelangt‘.46
Das Leistungsspektrum pastoralen Handelns in der Kirche kann niemals mit einer betriebswirtschaftlichen Brille beurteilt werden. Es geht um die Entwicklung und die Entfaltung menschlicher Existenz hin zur Sinnfülle des Lebens (Joh 10,10). Das Modell menschlicher Entfaltung und glaubhafter Sinngebung ist nicht das Modell eines Theologen, es ist das göttliche Modell für den Menschen schlechthin. Bei seiner ersten Begegnung mit dem Menschen geht es Jesus zuallererst nicht darum, sein Leben zu verändern, sondern ihm in seiner ganz individuellen Situation mit all ihren Stärken und Schwächen die Tiefe der Liebe Gottes spüren zu lassen. Gott ergreift die Initiative lang bevor der Mensch sich zu ihm aufmacht.
Um dem Leben eines an Leib oder Seele verwundeten Menschen, dem Jesus begegnet, wieder Sinn zu geben, setzt er sich nicht hin und belehrt diesen über die Wahrheit oder die Fülle des christlichen Lebens, sondern er umarmt ihn mit seinen mitfühlenden Worten oder berührt ihn in Liebe, die die Liebe Gottes ist. Danach heilt Jesus das, was der Fülle des Lebens hinderlich ist, den Frieden und die Zufriedenheit stört und es oft auch unmöglich gestaltet, nach dem Evangelium zu leben. Erst dann mahnt Jesus vom Verwundeten eine Leistung ein. Er fordert den seit 38 Jahren Verkrüppelten am Rand des Teiches Betesda auf umzukehren: „Jetzt bist du gesund; sündige nicht mehr, damit dir nicht noch Schlimmeres zustößt“ (Joh 5,15). Zur ertappten Ehebrecherin sagt er: „Auch ich verurteile dich nicht. Geh und sündige von jetzt an nicht mehr!“ (Joh 8,11).
Vertrauen – Gott vertrauen und dem Menschen trauen
Der Autor des Hebräerbriefes wendet sich an die zweite oder dritte Generation der frühen Christengemeinde (Hebr 2,3), „denen der Elan der Anfangszeit abhandengekommen ist“.47 Diese Worte gelten nicht nur einer bestimmten Gemeinde, sondern sind einer ganzen Generation der Heilsgeschichte in ihrer pastoraltheologischen Wanderschaft zugesprochen (Hebr 10,32-35):
Erinnert euch an die früheren Tage, als ihr nach eurer Erleuchtung manchen harten Leidenskampf bestanden habt: Ihr seid vor aller Welt beschimpft und gequält worden, oder ihr seid mitbetroffen gewesen vom Geschick derer, denen es so erging; denn ihr habt mit den Gefangenen gelitten und auch den Raub eures Vermögens freudig hingenommen, da ihr wusstet, dass ihr einen besseren Besitz habt, der euch bleibt. Werft also eure Zuversicht nicht weg, die großen Lohn mit sich bringt.
Den Weg des gemeinsam wandernden Gottesvolkes hatten auch die Konzilsväter im Sinn, als sie in der Kirchenkonstitution darauf hinweisen, dass Gott beschlossen hat, diejenigen, die Christus vertrauen, in der Gemeinschaft der Kirche zusammenzurufen (LG2). Der oft lange Weg verlangt von den Anhängern des „neuen Weges“ vor allem Ausdauer (Hebr 10,36; 12,1-2) und den beharrlichen Willen zur Neuorientierung (Hebr 2,1; 3,10). Die Schwierigkeiten in der Gemeinde kommen nicht von außen, sondern sind in der Organisation selbst zu orten, „es sind schlicht und einfach die Mühen der Ebene, die Probleme bereiten“.48 Thomas Söding spricht davon, dass der christliche Glaube alltäglich wird und es der Gemeinde zunehmend schwer fällt, „sich auf das Hören des Evangeliums zu konzentrieren und das Überzeugende, Aufbauende, Wegweisende, Ermunternde, Tröstende, Anspornende der christlichen Botschaft zu erkennen“49 (Hebr 5,11-14).
Die Erkundung des Beginns eines neuen Weges der Gemeinde sieht Söding im „Hinschauen zu Jesus – Hinhören auf Gottes Wort“, in der „Wahrnehmung der Wirklichkeit“ und dem Sehen des Unsichtbaren – Hören des Unerhörten“50, drei Vorausbedingungen für das Vertrauen auf Gott, die eine notwendige Neuorientierung initiieren können. Wenn der Gemeinde das Vertrauen auf die Nähe Gottes abhandenkommt, dann mündet dies in einer aufkeimenden Inflexibilität, die sie früher oder später lähmt.
Der vertrauende Gottesglaube, der seine Standfestigkeit aus der Hoffnung empfängt, umschließt und nährt auch das Vertrauen in den Menschen, der Weggefährte des pilgernden Gottesvolkes ist. Schließlich und endlich ist es nicht der Taufspender, der den Täufling mit dem heiligen Chrisam zum Priester, König und Propheten oder zur Priesterin, Königin und Prophetin salbt, sondern der Herr selbst. Die Glaubwürdigkeit dieser Handlung wird zum Prüfstein des Zusammenlebens und des gemeinsamen Handelns in der Kirche. Es ist Jesus selbst, der mit dem Getauften auf seinem Lebensweg unterwegs ist. Die einzige gültige Antwort auf das Vertrauen Gottes in sein Geschöpf Mensch, den er ja nur ein wenig geringer gemacht hat, als er selbst ist, und den er ja mit Herrlichkeit und Ehre gekrönt hat (Ps 8), kann nur ein bejahendes Vertrauen sein.
Dem Autor des Hebräerbriefes geht es nicht um einen ekklesiologischen Traktat, aber sehr wohl um eine alltägliche praktisch-theologische Reflexion einer Spiritualität der Communio im Großen und im Kleinen, d.h. er ruft die verlorengegangene Spiritualität der Gemeinden, der Pfarren, der Ortskirchen und damit der universalen Kirche ins Gedächtnis des pilgernden Volkes Gottes.
Die Liturgiereform des Zweiten Vatikanums hat mit dem Friedensgruß in der Eucharistiefeier wieder eine symbolische Geste der urchristlichen Gemeinden in Erinnerung gerufen, die uns mehrfach aus den Paulusbriefen (Röm 16,16; 1Kor 16,20; 2Kor 13,12) überliefert ist: „Grüßt einander mit dem heiligen Kuss“ oder auch mit dem „Kuss der Liebe“ (1 Petr 5,14). Wie können Leiter oder Mitglieder einer Gemeinde bei dem Friedensgruß dem Gegenüber in die Augen blicken, wenn sie einander in ihrer tagtäglichen Arbeit in und für die Kirche nicht über den Weg trauen?
Wachstum – Das Reich Gottes schlägt Wurzeln
Eine missionarische, kooperative und konstruktive Kirche51, wie sie Thomas Söding in der Tätigkeit des Apostels Paulus vor Augen hat, verkündet primär das Reich Gottes vor allem dadurch, dass sie mehr Salz der Erde und Licht der Welt (Mt 5, 13-16) ist und in ihrer Sendung nicht unbedingt vieler Worte bedarf. Zweitens treibt die Kirche als Communio stets die ihr von Jesus aufgetragene Sammlung des Gottesvolks voran – auch wenn diese Worte selbst nicht aus Jesu Mund kommen, so sind sie in seinem Reden und Tun impliziert, denn ein Reich kann im damaligen Sprachgebrauch nicht ohne Volk existieren.52 Das dritte Merkmal der Kirche Christi demonstriert uns Paulus als Gemeindegründer und Gemeindeleiter: In diesem Kontext geht es ihm nicht nur um das innovative und kreative Handanlegen am Bau des Hauses Gottes, sondern er hat den ganzen Menschen als den Tempel des Heiligen Geistes (1Kor 3,16) im Sinn.
Damit umfasst das Reich Gottes alle Dimensionen des menschlichen Lebens, von der Existenz der einzelnen Person über die Geburt einer kleinen christlichen Gemeinschaft und den Aufbau einer Gemeinde über das Erblühen einer Ortskirche hin bis zur wirklich universalen Kirche. Bei der Begegnung des Hauptmanns von Kafarnaum ist Jesus über dessen tiefen Glauben erstaunt und spricht über eine große Völkerwallfahrt: „Viele werden von Osten und Westen kommen und mit Abraham, Isaak und Jakob im Himmelreich zu Tisch sitzen“ (Mt 8,11). Was Jesus im kleinen Kreis begonnen hat, setzen seine Jüngerinnen und Jünger nach seinem Tod und seiner Auferstehung fort. Am Pfingsttag (Apg 2,1-13) und mit den Gemeindegründungen von Paulus und seinen Gefährten wird diese „Völkerwanderung“ zur Realität.
Für die Entwicklung und das Wachsen des Reiches Gottes hat Jesus seinen Aposteln keine dezidierten oder fixen Strukturen vorgeschrieben, er hat ihnen allerdings mit seinem eigenen Leben das „Wie“ vorgegeben. Die institutionellen Formen des Reiches Gottes sind bisweilen im offenen Disput, beispielsweise beim Apostelkonzil (Apg 15,1-35), oder aber auch in aller Stille in den Gemeinden des Römischen Reiches gewachsen.
Paulus verliert in seiner Missionsarbeit das eschatologische Ziel – in der Organisationswissenschaft würde heute von der strategischen Zielsetzung gesprochen werden – niemals aus dem Blick. In seinem ersten Brief an die Gemeinde in Thessaloniki, dem ersten, den er jemals an eine Gemeinde adressiert hatte, ermahnt er sie (1Tess 5,12-13):