Mut. Machen. Liebe. Hansjörg Nessensohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hansjörg Nessensohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783764192907
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      Jonas grinst mich an. Zurückhaltender als früher, aber immer noch als würde er was planen. Irgendeinen Scheiß mit seinem besten Freund. Mit mir. Ich denke ›endlich‹ und frage cool ›Was geht?‹. Sein Display wackelt, er rückt näher ans Handy. Jetzt erkenne ich, dass sein Lächeln nicht zurückhaltend, sondern traurig ist. Kein Wunder. ›Nicht viel‹ flüstert er. ›Same here‹ bekomme ich noch raus, bevor ich mich räuspern muss. Fieberhaft überlege ich, was ich als Nächstes sagen kann. Keine Vorhaltungen, dass er mich seit Monaten ghostet. Ich will nicht, dass er genervt auflegt. Lieber was zur Schule vielleicht? Einen Witz über unser schrecklich schlechtes Fußballteam? Oder erwartet er, dass ich nach seiner kleinen Schwester frage, ob es eine neue Spur zu ihr gibt? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass ich ihn einfach umarmen will. Trösten. Vielleicht auch küssen. Wie damals am Strand.

      ›Ich muss ständig daran denken‹, flüstert er noch leiser als eben. ›Ich auch.‹ Wir schauen uns an. Sekunden, die sich wie Minuten anfühlen. Und in denen alles ausgesprochen wird, ohne was zu sagen. Jonas unterbricht die Stille. ›Können wir es wiederholen?‹ ›Was?‹ ›Du weißt schon.‹ ›Wann?‹ ›Jetzt.‹ Nein. Ja. Natürlich. Sicher tausendmal habe ich mir ausgemalt, wie es beim zweiten Mal werden wird. Diese Version war nicht dabei. Aber sie macht mich an, ich will nicht warten. Und ich will Jonas nicht warten lassen.

      Schnell schließe ich meine Zimmertür ab, ziehe mein Shirt aus, setze mich zurück vors Handy. Es ist ein Fehler, ich weiß es einfach. Aber ein Fehler, der sich wahnsinnig gut anfühlt. ›Ich will sehen, wie du’s dir machst.‹ Er spricht meine Gedanken aus. Ich kann nicht glauben, dass das nach Monaten Funkstille gerade passiert. Meine Hand fährt in meine Hose, ich kippe das Handy, damit er alles sieht und sage laut ›Man, ich hab dich echt vermisst.‹

      Er fängt an zu lachen. Ich lache mit. Gelöst. Bis ich merke, dass wir gar nicht allein sind. Dass von allen Seiten das Lachen kommt, weil unser Chat nicht mehr intim ist, sondern plötzlich Tausende Teilnehmer hat. Jonas? Er verschwindet. Und jetzt kapiere ich auch, dass die anderen nicht mit mir lachen, sie lachen mich aus. Schrill, boshaft, tödlich. Sie zeigen auf mich. Und das Handy filmt erbarmungslos weiter. Ich bekomme es nicht zu fassen. Keinen Zentimeter kann ich mich bewegen. Mein nackter Körper ist wie gelähmt. Nur meine riesige Erektion pocht weiter in die Kamera. Sie sehen alles. Ich winde mich, stöhne, sie sollen aufhören, wegschauen, mich in Ruhe lassen. Ich würge so was wie einen Schrei aus mir raus …

      Und reiße die Augen auf.

      Die Morgensonne blendet mich, in ihren Strahlen tanzt der Staub der Nacht. Ich versuche mich zu orientieren. Italien. Es ist alles gut. Der Herzschlag in meinen Ohren wird leiser. Ich bin in Sicherheit.

      Fuck! Nein, nichts ist gut. Mein Herzschlag wird wieder lauter. Wütender. Nicht mal hier, nicht mal nachdem wir ein für alle Mal einen Schlussstrich gezogen haben, lässt Jonas, lässt dieser Albtraum mich los. Er war doch schon so gut wie weg – jetzt kommt er wieder.

      Ich linse zu Liz rüber und hoffe, dass sie nichts mitbekommen hat. Hat sie nicht, das Bett neben meinem ist leer. Überrascht sehe ich, dass ihre ganze Zimmerseite leer ist. Der Rucksack, ihre Schuhe, alles ist mitsamt der Besitzerin verschwunden. Sie muss sich schon im Morgengrauen leise auf den Weg gemacht haben. Vermutlich werde ich sie nie wiedersehen.

      Draußen im Flur herrscht Aufbruchsstimmung, irgendjemand schrammt an meiner Zimmertür vorbei. Ich sollte mich besser auch mal beeilen, bevor die Temperatur wieder auf über 30 Grad steigt. Beim Aufstehen spüre ich den Muskelkater. Die Lähmung aus meinem Traum war echt. Noch mal Fuck!

      Und dann sehe ich sie. Die Postkarte, die am Fußende meines Bettes liegt. Also ist die alte Dame doch nicht spurlos verschwunden. Hätte mich irgendwie auch gewundert.

      Ich nehme die Karte in die Hand, eine alte Stadtansicht von Köln, und lese die Nachricht, die Liz mir hinterlassen hat.

       Wohin reist du, wenn du deine Augen schließt?

       Es stimmt, dass wir mit dem Herzen meistens besser sehen. Ist nicht von mir, trotzdem gut. Liz

      Und was tue ich? Ich schließe tatsächlich kurz meine Augen, sehe Dinge, die ich nicht sehen will, und öffne sie sofort wieder. So ein verdammter Blödsinn, ich bin schon so verrückt wie alle hier.

      Ohne die Karte eines weiteren Blickes zu würdigen, schiebe ich sie in die Seitentasche meines Rucksacks zu meiner Notfall-Bifi, die dort geduldig vor sich hin schwitzt.

      Dann mache ich mich auf den Weg ins Bad.

      3.

      Ich sehe Liz pink leuchten, als ich nach zehn Kilometern bergab und tausend wilden Gedankensprüngen eine Pause mache. Sie sitzt an einem Bach etwas abseits des Weges, kühlt ihre Füße und schaut in die entgegengesetzte Richtung. Es sieht aus, als würde sie die Zypressen zählen, die entlang der geschlängelten Straße Spalier stehen. Oder die Wolken, die als kleine weiße Tupfer dem Himmel seine Form geben.

      Auf jeden Fall wirkt sie sehr entspannt. So entspannt, wie ich mich gern fühlen würde, es aber nicht tue, weil mein Kopf seit den ersten Schritten am Morgen auf Hochtouren arbeitet. Eigentlich schon seit dem Aufwachen.

      Es ging los mit dem Bild, das ich nicht mehr sehen wollte, aber mit geschlossenen Augen wiedergesehen habe. Ich vor einigen Wochen in Köln, voller Vorfreude auf das Wiedersehen mit Jonas, um dann zu erkennen, dass ich zu spät gekommen bin. Oder dass er mir zu wenig Zeit gelassen hat. Oder dass es einfach eine Schnapsidee war, nach all den Jahren und allem, was passiert ist, irgendwo anknüpfen zu wollen. Es ging weiter mit diesem realen Moment aus meinem beschissenen Traum, der alles verändert hat. Als das Video online gegangen war, das schuld daran ist, dass ich die Spur verloren habe, die ich bis heute suche. Und statt mich aufs Finden zu konzentrieren, habe ich dann lieber Jonas geschrieben. Ausgerechnet ihm. Ich versteh’s selber nicht, dieses Laufen macht gaga. Wenn das so weitergeht, breche ich spätestens übermorgen ab. Oder zusammen.

      10:19

      Kenn ich dich denn überhaupt noch? P.

      10:21

      Hab ich dich überhaupt jemals gekannt?

      Er blieb offline, dafür stand mein Gedankenkarussell nach dieser kurzen Unterbrechung nur noch mehr unter Strom. Es jagte mich durch ein paar leidliche Beziehungsversuche der letzten Jahre. Musikschnipsel, die mir in den Sinn kamen, erinnerten mich daran, dass wohl mein größter Berufswunsch aufgrund von fehlendem Talent keine Zukunft haben würde. Dazwischen funkten beängstigende Schlagzeilen aus der Welt und die Frage, ob es in Zukunft überhaupt noch eine Zukunft geben wird. Und über allem hing wie immer das schlechte Gewissen mit der Stimme meines Vaters, die mir sagt, dass ich gar kein Recht hätte, nicht zu wissen, was ich will, weil mir nahezu alle Möglichkeiten offenstehen würden.

      So viel also zum Thema ›beim Laufen lässt es sich leichter nachdenken und loslassen‹. Ich habe vielmehr den Eindruck, als scheucht jeder Schritt einen weiteren Gedanken in den entlegensten Ecken meines Gehirns auf, der dann ungefiltert durch meinen Kopf rasen muss. Und der gleichzeitig alles andere platt walzt, auch die schöne Gegend, die ich nur sporadisch wahrnehme. Derart aufmerksam hätte es für meine Wanderung auch der Frankfurter Stadtwald getan. Wäre auf jeden Fall kühler und billiger gewesen.

      »Nicht-Pilger Paul aus Frankfurt. Hallo.«

      Liz hat mich entdeckt und winkt mir zu.

      Ich greife nach meiner Wasserflasche und meinem Rucksack und balanciere ein paar Meter den Bach entlang. Ungesehen weitergehen ist keine Option mehr.

      Sie begrüßt mich herzlich und entspannt – war ja klar.

      »Gut geschlafen?«

      »Glaub schon.«

      »Hab ich gehört.«

      »Schnarch ich?« Ich setze mich direkt neben sie.

      »Hat dir das noch niemand gesagt?«

      »Nein.«

      Mir entgeht natürlich