»Und was sind nicht offensichtliche Gründe?«
Ahhhhh. Ich tue erstmal so, als wäre ich von der Landschaft viel zu abgelenkt, um direkt antworten zu können. Dabei laufen wir gerade durch ein Waldstück, das zwar angenehm schattig, aber ziemlich unspektakulär ist. Zumindest unspektakulärer als alle Weingüter, Dörfer und alte Klöster zusammen, die wir heute schon gesehen haben.
Aber irgendwann wird es peinlich, wenn das Ignorieren ignoriert wird. Und Liz ist eine Meisterin im Ignorieren vom Ignorieren. Ich spüre, wie sich ihr Blick in meine Schläfe bohrt.
»Alles halt. Findest du, dass die Welt einem zurzeit viele Gründe liefert, um total grenzenlos happy zu sein?«
»Viele nicht, aber ein paar schon.«
»Und welche?«
Liz macht mit ihren Armen eine ausladende Bewegung, als ob sie jemand zuwinken will. »Das hier zum Beispiel.«
Ein bisschen enttäuscht mich die Antwort, weil das ja ungefähr so ist, wie wenn jemand auf die Frage, welche Musik hörst du gern, mit alles antwortet.
»Das meine ich aber nicht.«
»Was dann?«
»Ich mein die Sachen, die so passieren. Krankheiten, Kriege, Klima, dieser ganze apokalyptische Scheiß. Und das ist ja nur der große Rahmen. Die ganzen Rahmen in der eigenen kleinen Welt kommen ja noch dazu, die irgendwie immer mehr werden und in die man sich versucht reinzuquetschen, weil man sonst aus dem, äh, Rahmen fällt.« Ich muss unwillkürlich lachen. »Abgefahren, passt ja voll.«
Liz schmunzelt ebenfalls vor sich hin. »Das kann ich alles verstehen. Aber so ganz beantwortet das meine Frage noch immer nicht, warum du nicht glücklich bist. Du persönlich.«
Ich trotte weiter neben Liz her und denke über meine Antwort nach. Das stimmt schon alles. Manchmal fühle ich mich einfach wie eingesperrt in die ganzen Rahmen und habe trotzdem die Aufgabe, Entscheidungen fürs Leben zu treffen. Für mein Leben, an das ich und viele andere hohe Erwartungen haben. Aber ständig verschieben sich diese Rahmen. Und man muss sich neu positionieren, obwohl man eigentlich gerade eine ganz bequeme Stellung eingenommen hat. Mir ist nur nicht ganz klar, wie ich Liz das erklären kann, die in einer ganz anderen Zeit und Welt so alt war wie ich.
»Weißt du eigentlich, dass das Streamen von Netflix so viel Strom verbraucht, wie eine mittelgroße Stadt im Jahr benötigt? Das ganze Geschwafel von Umweltschutz ist also total fürn Arsch, wenn man eine Serie nach der anderen bingt.«
Liz schaut mich fragend an.
»Du weißt: Netflix, wo die Serien laufen.«
»Das ist mir auch klar, ich lebe ja nicht hinterm Mond. Ich kapiere nur nicht, was du mir damit sagen willst.«
»Na, die Rahmen eben. Ich bin voll für Umweltschutz und gucke trotzdem jede verdammte Serie. Das passt null zusammen, aber ich mach’s trotzdem. Wie alle andern auch. Das ist doch voll verlogen, findest du nicht?«
Ich sehe sie erwartungsvoll an und lasse es, als ich ihren verständnislosen Blick sehe, bleiben. Es ist der falsche Weg, ihr meine Rahmenproblematik zu erklären.
»Ach, egal, war nur so dahergesagt.«
Sie hakt sich wieder bei mir unter. Ich finde das mittlerweile kaum noch komisch, obwohl wir uns erst seit knapp 24 Stunden kennen. Und obwohl sie eine uralte Frau ist.
»Und was ist jetzt mit dem Glück? Mit deinem Glück, Nicht-Pilger Paul aus Frankfurt?«
Eine uralte neugierige Frau.
Ich bleibe kurz stehen. »Nicht jetzt. Erzähl du lieber was.«
»Was? Von den Rahmen, in die Helmut und Enzo eingequetscht waren? Die gab’s damals nämlich auch schon und ich glaube sogar, die waren teilweise viel enger und starrer, als sie es heute sind.«
»Das kann gut sein. Aber es gab insgesamt weniger, oder?«
Ich erhalte keine Antwort, stattdessen gestattet sie mir nur einen weiteren instagrammäßigen Einblick in dieses längst vergangene Leben.
Helmut wusste nicht mehr weiter. Seit dem Abend im Rheinpark tauchten die Bilder wieder häufiger auf. Regelmäßig. Auch tagsüber. Unkontrollierbar. Er verfluchte seinen Kopf dafür und wusste gleichzeitig gar nicht, ob der überhaupt schuld war. Manchmal hatte er das Gefühl, als würde sein ganzer Körper dahinterstecken. Er war verdammt nochmal ein Mann. Und es war unnatürlich, dass ein Mann von einem anderen Mann so durcheinandergebracht wurde. Das gab es einfach nicht. Das war falsch. Kriminell. Pervers.
Mit voller Wucht knallte Martins rechte Faust jetzt schon zum zweiten Mal in sein Gesicht. Ungebremst stürzte Helmut auf den harten Boden ihres provisorischen Boxrings.
»Mensch Helmi, du bist gar nicht bei der Sache.«
Helmut öffnete die Augen und musste sich in der schummrig beleuchteten Autowerkstatt von Gerdis Vater erst mal neu orientieren. Er fühlte den Schmerz in seinem Kiefer und ließ ihn knacken.
»Was ist los, Mann?« Martin stand über ihm und reichte ihm seine Hand. »Bist du verletzt? Du hast ja echt alles verlernt.«
Seit seiner Verlobung trainierte er wieder regelmäßiger mit Martin. Und es tat gut. Die Prügel, die er dabei immer kassierte, waren genau das richtige Mittel, die Bilder wenigstens für ein paar Augenblicke zu verscheuchen. Meistens klappte es, heute jedoch nicht.
»Bin unkonzentriert.«
Er ergriff Martins Hand und schmeckte gleichzeitig Blut in seinem Mund – wie damals auf der Friesenstraße.
»Wenn du dich von Marlene auch so in den Sack stecken lässt, dann gute Nacht«, lachte Martin blöd.
»Was soll das denn heißen?«
»Nichts, nichts.«
Martins Worte klangen nach, und Helmut starrte auf den blutigen Fleck auf seinem Handtuch. Er spürte, wie die Wut plötzlich in ihm hochkochte. Auch wie damals. Was war heute bloß los?
»Sag schon, hast du ein Problem? Bist du immer noch eifersüchtig auf Marlene und mich?« Er stellte sich herausfordernd vor seinen kleineren, aber doppelt so muskulösen Freund. »Wenn du ein Problem hast, dann lass es uns hier und jetzt klären.«
Martin drehte sich jedoch nur mit einer überheblichen Geste von Helmut weg. »Lass gut sein, Helmi. Ich will dir nicht noch mal wehtun.«
Aber genau darauf legte Helmut es an. Er wollte sich prügeln. Er wollte seine Wut loswerden. Darum reizte er Martin weiter.
»Dann akzeptier das mit Marlene und mir endlich. Kann ja nichts dafür, dass du keine abkriegst. Schau dich mal an. Wie war dein Spitzname früher gleich noch mal? Zwerg Nase? Wird sich echt jede Frau zweimal überlegen, ob sie mit so einem Pimpfling was anfangen …«
Mit einem Satz war Martin wieder bei Helmut und packte ihn am Hals. Schnell wie ein richtiger Boxer, sodass Helmut keine Chance hatte, sich zu wehren.
»Halt’s Maul, Helmi. Du bist eine Wurst. Du kannst Marlene rein gar nichts bieten. Weder finanziell noch körperlich. Also, werd ja nicht übermütig. Heiratet ihr mal. Die Abrechnung, wer von uns beiden eine Frau glücklich machen kann, kommt später. Verstanden?«
Martin ließ schnaubend