Mut. Machen. Liebe. Hansjörg Nessensohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hansjörg Nessensohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783764192907
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damit der Schwindel aufhörte. Das Gebrüll wurde lauter.

       »Du bist tot!«

       »Cretino!«

       »Ich mach dich kalt, du verdammter Itaker.«

      Die beiden Männer jagten sich um das Auto. Sollten sie sich doch gegenseitig umbringen. Er würde jetzt zu Marlene gehen. Und zu Willy Millowitsch.

      Helmut rappelte sich hoch und musste sich kurz an der Hauswand festhalten, um das Schwindelgefühl endgültig abzuschütteln. Dabei merkte er, dass er auf seinem Zylinder stand, der jetzt nicht mehr nur schmutzig, sondern auch noch völlig zerbeult war.

      Und genau in diesem Augenblick überkam ihn eine Wut, die er selten spürte. Die sich von seinem Bauch aus im ganzen Körper ausbreitete, bis er zu explodieren drohte. Weil einfach alles schieflief. Und weil dieser dämliche Muskelprotz kein Recht hatte, ihn grundlos niederzuschlagen.

      Ohne nachzudenken rannte Helmut los und rammte dem Kneipenschläger sein ganzes Körpergewicht in die Seite. Der war auf den Angriff nicht vorbereitet, weil er sich nur noch auf den Italiener konzentriert hatte, und ging keuchend zu Boden. Helmut landete ungebremst auf ihm.

       »Brauchst du Hilfe, Ernst?«

      Aus der Kneipe traten zwei weitere Männer. Helmut sprang auf und stellte sich ihnen in drohender Kampfposition entgegen. Dummerweise war genau jetzt seine Wut wie weggeblasen und die zurückkehrende Vernunft sagte ihm, dass er trotz des Boxtrainings mit Martin keine Chance hatte. Seine Gegner schienen mehr oder weniger Profis zu sein, die nicht den Eindruck machten, als würden sie Spaß verstehen. Er prüfte die nicht vorhandene Fluchtmöglichkeit, als plötzlich jemand seinen Namen schrie.

       »Helmut?!«

      Marlene. Ihre Stimme war kaum zu erkennen, sie war so hoch wie nie. Helmut drehte sich zu ihr um. Sie stand auf der anderen Straßenseite und schaute erschrocken zu ihnen rüber.

       »Was ist hier los? Oh Gott, Helmi, wie siehst du aus?«

      Helmut bemerkte, dass die Männer schnell auf ihn zukamen.

      »Packt ihn«, stöhnte der ausgeknockte Kollege.

       Doch bevor die beiden den Befehl ausführen konnten, sprang der Italiener auf Helmut zu, riss ihn am Arm und zog ihn mit sich. »Scappa!«

      Die ersten Meter stolperte Helmut mehr oder weniger nur hinter dem Fremden her, bis er kapierte, dass er genau jetzt um sein Leben rennen musste. Und das tat er dann auch.

      Kreuz und quer rannten sie durch das Friesenviertel, an der Gereonskirche vorbei und quer durch die Gerling-Baustellen. Sie hielten erst an, als sie sich sicher waren, die Verfolger abgeschüttelt zu haben. Außer Puste versteckten sie sich in einem dunklen Hauseingang.

      Helmut konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Marlenes entsetztes Gesicht blitzte kurz auf, dann kam der Schwindel zurück und er musste sich setzen.

       »Ce l’abbiamo fatta.«

       »Nix capito!«

      Eigentlich wollte Helmut diesem dämlichen Ausländer wütend sagen, dass er einfach seinen Mund halten sollte, dass er verschwinden und ja nie wieder auftauchen sollte, doch was er sah, als er kurz aufschaute, traf ihn völlig unvorbereitet. Sein Gegenüber grinste ihn an, so fröhlich, als würde gleich der Rosenmontagszug um die Ecke biegen. Und mit derart strahlend schwarzen Augen, die komischerweise auch in der Dunkelheit leuchteten, dass er einfach vergaß, was er sagen wollte.

       »Come ti chiami?«

       »Was?«

       Der Italiener kniete sich neben ihn. »Name?«

       »Helmut.«

       Sein Grinsen wurde breiter. »Ciao, El Mut. Grazie per l’aiuto. Mi chiamo Enzo.«

      Helmut verstand gerade mal den Vornamen. Doch während Enzo ihm wie selbstverständlich mit einem Stofftaschentuch die blutende Nase sauber tupfte, verstand er noch was ganz anderes: Das hier war einer von den wenigen Momenten im Leben, die so perfekt gut oder so schrecklich waren, dass sie sich für immer auf der Netzhaut des Herzens einbrannten. Und genau so war es blöderweise auch.

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      »Wie jetzt?«

      Ich warte irritiert darauf, dass Liz weitererzählt, oder liest, keine Ahnung, was das eben eigentlich war, doch sie blinzelt nur dem letzten Rest der Sonne nach, die dabei ist, hinter den runden Hügeln der Toskana zu verschwinden.

      »Und wer bringt wen um?«

      Liz bleibt stumm und hängt ihren Gedanken nach, und ich nutze die Gelegenheit, ihr Gesicht etwas genauer zu studieren. Sie sieht nicht mehr ganz so alt aus wie noch vor wenigen Minuten, aber trotzdem bin ich mir mittlerweile sicher, dass sie älter sein muss, als ich zunächst angenommen habe. Mitte 70 vielleicht, weil sie ja auch vorhin irgendwas vom Krieg gefaselt hat. Aber ist es überhaupt möglich, in diesem Alter so einen steilen Weg zu laufen, wie ich ihn heute auch hinter mir habe? Ihre Wanderschuhe lassen keinen anderen Schluss zu als den, dass sie auch zu Fuß unterwegs ist. Ein bisschen schäme ich mich plötzlich für mein Gejammer.

      »Ich will dich mal lieber nicht länger mit meinen ollen Kamellen langweilen. Sagt man das noch?«

      »Was? Olle Kamellen?«

      »Hm.« Liz klappt ihr Buch zu und steht auf.

      »Na ja, zum Jugendwort des Jahres wird’s sicher nicht mehr gewählt. Aber ich versteh’s schon.«

      »Und wie sagt ihr Jungen dazu?«

      »Keine Ahnung. Vielleicht lame story, oder so?«

      »Gut, dann will ich dich mal nicht länger mit meiner lamen story langweilen.«

      »No worries, so lame war sie jetzt auch wieder nicht.«

      Liz lächelt und ich muss widerwillig zurückgrinsen. Widerwillig, weil ich sie weiterhin nervig finden will. Es aber irgendwie gar nicht mehr tue. Keine Ahnung, ob es daran liegt, dass sie beim Erzählen der Geschichte gerade so verletzlich gewirkt hat, oder daran, dass sie gar keine Anstalten mehr macht, mich weiter zu erziehen.

      »Wir sehen uns später. Ich geh mal ins Zimmer und schreib noch ein paar Sachen auf. Sonst ist morgen alles weg.« Liz tippt sich dabei an den Kopf.

      »Wie alt sind Sie eigentlich?«

      »Ich dachte, wir sind beim Du.«

      »Okay, wie alt bist du?«

      Alte Leute duzen, wenn sie nicht gerade Oma oder Opa sind, hat immer was Komisches.

      »80. Plusminus.«

      »Fuck! Was?«

      Ich fasse es nicht. 80. Nicht mal meine Großeltern sind so alt. Ich kenne überhaupt niemanden persönlich, der oder die so alt ist. Vielleicht diese komische Nachbarin zu Hause in Frankfurt, die mit ihren zwei verfilzten Rauhaardackeln immer die Straße auf und ab läuft und alle Kita-Kinder, die ihr zu nah kommen, anschreit. Die könnte eventuell so alt sein, aber die braucht für 100 Meter Gassi gehen auch fast drei Stunden. Und ganz sicher würde sie nicht bei Backofentemperaturen durch Italien wandern. Doch bevor ich noch mal nachfragen kann, geht Liz schon zurück ins Haus.

      »Ich nehme dieses ›Fuck‹ mal als Kompliment.«

      Mein entgeistertes Nicken sieht sie schon nicht mehr.

      Als sie verschwunden ist, öffne ich direkt WhatsApp. Von dieser Begegnung muss ich unbedingt meinem Stiefbruder Finn und unserem besten Freund Jakob erzählen, weil ich weiß, dass von Jakob irgendein bescheuerter GILF-Kommentar zurückkommen wird. Aber ich lasse es dann doch bleiben, weil eine neue Nachricht angezeigt wird,