Mut. Machen. Liebe. Hansjörg Nessensohn. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hansjörg Nessensohn
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783764192907
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da noch war, wie du schreibst, ist echt schon ewig lang her. Und ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, ob ich dich noch kenne. Ist einfach ziemlich viel passiert in der Zwischenzeit. Hätte es gern rausgefunden. Schönen Urlaub, Jonas

      Ich starre aufs Display und dann in den orangeroten Abendhimmel. Viel passiert, das kann man wohl sagen. Und auch, dass ich heute ein Anderer bin als damals, woran Jonas ja wirklich nicht ganz unschuldig ist. Der Hauptschuldige, um genau zu sein.

      Schönen Urlaub.

      Vermutlich ist diese Nachricht das endgültige Aus zwischen uns. Ich bin froh darüber, endlich kann ich mich auf die Zukunft konzentrieren. Genau das, was ich wollte. Nach vorne schauen. Was essen.

      Ich stecke mein Handy zurück in die Hosentasche und quäle mich aus dem Liegestuhl. Und in dieser Bewegung, halb aufrecht, halb sitzend und dementsprechend nicht besonders sexy, kapiere ich, dass Jonas und ich, so unterschiedlich wir mittlerweile auch sein mögen, doch noch eine Gemeinsamkeit haben: Ich möchte verdammt noch mal auch rausfinden, wer ich heute bin. Denn wenn ich ganz ehrlich bin, habe ich seit über vier Jahren nicht den Hauch einer Ahnung davon.

      2.

      Nach dem Abendessen schleppe ich mich zurück in mein Zimmer. Es ist noch nicht mal halb zehn, aber ich bin so müde, als hätte ich zwei Nächte durchgefeiert. Schon als meine riesige Pizza serviert wurde, musste ich mich zusammenreißen, um nicht am Tisch einzuschlafen. Was vermutlich nur mir selbst, nicht aber meinem französischen Sitznachbarn aufgefallen wäre, der mir in merkwürdigem Englisch und mit weit aufgerissenen Augen von seinem Pariser Mitbewohner erzählt hat, der auch Paul heißt und angeblich schlagkräftige Beweise dafür gefunden hat, dass die Erde eine Scheibe ist. Er selbst ist jetzt unterwegs, das zu überprüfen. Erst habe ich nur gelacht, dann gestaunt und mich schließlich einfach weggesetzt, weil er mir die Beweisführung an meiner Pizza vorführen wollte.

      Mir reicht der Beweis, schon der zweite heute, dass die Foreneinträge mit den verrückten, quatschenden Menschen wirklich der Wahrheit entsprechen. Und ich kann nur hoffen, dass dieser Irrsinn nicht irgendwann auf mich überspringt. Vielleicht ist das durch die Gegend Laufen ja wirklich so ungesund, wie es sich gerade in meinen Beinen anfühlt.

      Die Zahnbürste im Mund und mein Kontaktlinsenmittel in der Hand nicke ich auf dem Flur ein paar spätankommenden Wanderern zu und bin mittlerweile ziemlich froh, dass alle Plätze in den Schlafsälen reserviert waren, als ich hier ankam. Auch wenn Liz zur Kategorie Foreneintrag gehört, wird die Nacht allein mit ihr sicher ruhiger werden. Wobei ich beim Zähneputzen auch kurz darüber nachgedacht habe, wie es sein wird, mit einer so alten Frau allein in einem Zimmer zu schlafen und was ich machen würde, sollte sie, weil man ja ab einem gewissen Alter nie weiß, die Nacht nicht überleben. Eine Antwort bin ich mir schuldig geblieben und hoffe nun einfach mal auf die geringe Wahrscheinlichkeit, dass der Tod bei einer amerikanischen Kölnerin nach 80 Jahren in Italien zuschlägt.

      Ich öffne leise die Tür unseres Zweibettzimmers und blicke auf den von zwei Leuchtstoffröhren erhellten neongrünen Fleecepulli-Rücken meiner Mitbewohnerin. Liz sitzt an dem kleinen Tischchen am Fenster und schreibt ihr Notizbuch voll. Auf ihrem Bett liegt ein Stapel Postkarten – bereit zum Abschicken. Ihr Mitteilungsdrang scheint sich wirklich nicht nur aufs Quatschen zu beschränken.

      Ich räume meinen Rucksack zur Seite, blase das mitgebrachte Kopfkissen auf und frage mich, wem sie die ganzen Karten wohl schickt. Ihrer Familie? Einen Enkel hat sie vorhin erwähnt. Freunden? Hat man mit 80 überhaupt noch Freunde? Wenn es so weitergeht wie bei mir, dann eher nicht, denn seit dem Abi wird mein Freundeskreis immer kleiner. Viele Leute, die früher extrem wichtig waren, existieren nur noch als vermutlich ungültige Handynummern in meinem Leben. Klar, es gibt auch einige Menschen, die neu dazukommen. Meistens Dates, die aber nie über den Status Bekannte hinausgehen. Kaum vorstellbar, wie klein der Kreis erst mal wird, wenn im Alter auch noch der Faktor Tod bei dieser Minimierung mitspielt.

      Ich krame meine Schlafshorts raus und muss bei dem bescheuerten Gedanken schmunzeln, einem dieser Date-Bekannten statt einer Chat-Nachricht eine Postkarte zu schicken. ›Hey Kev, Wetter ist schön, Essen gut, die Erde eine Scheibe. Viele Grüße aus Italien, Paul.‹ Der würde mich für völlig verrückt erklären und sich garantiert nie wieder bei mir melden. Was jetzt irgendwie auch kein großer Verlust wäre.

      »Willst du schlafen?« Liz dreht sich zu mir um und gleich wieder weg, als sie sieht, dass ich nackt bin. »Oh, sorry.«

      Ich ziehe schnell meine Shorts hoch.

      »Jetzt.«

      »Wollte dir nichts wegschauen.«

      »Ja, ja, das sagen alle.«

      »Wirklich. Ich habe da ja auch schon ganz andere Sachen gesehen.«

      »Äh, ist gut jetzt.« So weit kommt’s noch, dass Liz ihre jahrzehntelange Erfahrung mit nackten Männern vor mir ausbreitet. »Ich penn dann mal.«

      »Und ich bin gleich fertig, dann mache ich das Licht aus.«

      »Kein Thema. Bin so fertig, würd heute auch unter einem Scheinwerfer einschlafen.«

      Liz wendet sich wieder ihrer Schreibarbeit zu, und ich lege mich ins Bett. Besser gesagt auf ein als Bett getarntes Brett, aber egal. Hauptsache, ich kann liegen und schlafen und darauf hoffen, dass ich mich morgen körperlich wieder wie 19½ fühle.

      Verschwommen, weil ich ohne Brille und Kontaktlinsen höchstens 50 cm scharf sehen kann, beobachte ich Liz noch ein bisschen, die mit ihrem grauen, fast weißen Pferdeschwanz, der vorhin hochgebunden war und jetzt locker über ihrem Rücken baumelt, doch ein bisschen wie eine Bilderbuchoma aussieht. Mal abgesehen von dem neongrünen Pulli, der eher an eine Bilderbuchhexe erinnert.

      »Und wie ist dieser Paul aus Frankfurt so?«

      Als ich meinen Namen höre, reiße ich meine gerade zugefallenen Augen wieder auf. Mein Herz rast, wie es das immer tut, wenn ich überraschend und unsanft aus dem Halbschlaf geweckt werde.

      »Was?«

      »Na, ich muss doch ein bisschen was über meinen Bettnachbarn wissen, sonst kann ich ja gar nichts über ihn schreiben.«

      »Nicht nötig. Dafür bin ich viel zu uninteressant.«

      Ich lasse meinen Kopf wieder fallen und schaue der schemenhaften Liz zu, wie sie sich schwungvoll und scheinbar kein bisschen müde in ihr Bett legt. Für eine 80-Jährige ist das echt nicht normal.

      »Und was macht dich da so sicher?«

      Ich presse ein lautes Gähnen raus, um nicht antworten zu müssen, doch mein müdes Ablenkungsmanöver erzielt keine Wirkung. Liz scheint nicht im Traum daran zu denken, ihre Frage zurückzuziehen.

      Ihre Frage?

      Es ist ja auch meine Frage, die mir vorhin nach Jonas’ Nachricht durch den Kopf geschossen war. Scheiß Zufälle.

      »Äh, kein Plan. Vielleicht weil ich noch viel zu jung bin und nichts erlebt oder erreicht hab im Leben.«

      »Sagt wer?«

      »Na, ich.«

      »Was willst du denn erreichen? Oder anders gefragt: Muss man immer was erreichen im Leben?«

      »Keine Ahnung.« Ich wünsche mich in einen der Schlafsäle, wo garantiert nur geschnarcht und nicht geredet wird. »Glaube schon. Ist doch alles darauf ausgerichtet. Auf Erfolg und ein perfektes Leben und so. Und wenn man nicht mitmacht, dann …«

      »Dann gehört man nicht dazu?«

      »Ja.«

      »Willst du mitmachen und dazugehören?«

      »Nein. Ja. Irgendwie schon.« Jetzt wäre der richtige Moment, den Mund zu halten. Aber das Echo meiner gestammelten Wörter klebt im Raum, und ich will vermeiden, dass Liz die Panik darin hört. »Mein Dad fragt mich das halt auch ständig. Was ich mal werden will und wie ich mir mein Leben vorstelle und so … Aber woher soll ich das denn wissen, wenn ich keine Ahnung habe, wer ich überhaupt