Aber Liz scheint mich gar nicht zu hören. Oder hören zu wollen.
»Und dann«, sie holt tief Luft, »dann gab es von jetzt auf gleich kein Zurück mehr.«
Ich schaue hoch und erschrecke über den abwesenden Ausdruck in Liz’ Gesicht, der sie um Jahre älter wirken lässt. Habe ich gerade was verpasst?
»Wie? Wovon denn?«
Der Vorsatz mit den Nachfragen ist vergessen.
Liz flüstert fast, als sie weiterspricht. »Wir mussten Köln bei Nacht und Nebel verlassen, sonst hätten sie ihn umgebracht.«
Ich kapiere kein Wort. Aber da blättert Liz in ihrem Buch schon kommentarlos auf die erste Seite zurück und beginnt mir das, was da handschriftlich steht, vorzulesen. Mein Hungergefühl ist auf der Stelle verschwunden.
Helmut rannte am Dom vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, weder den Zylinder seines Vaters noch dessen Anzughose, die ihm mit Sicherheit zwei Nummern zu groß war, zu verlieren. Glatt und kalt war es zu allem Übel auch noch. Nicht so kalt wie im letzten Winter, als der Rhein zugefroren war, aber trotzdem so eisig, dass sein rasselnder Atem dem Rauch einer Dampflok glich. Schlitternd überquerte er die Straße. Leute, die ihm auf dem schmalen Bürgersteig entgegenkamen, sprangen erschrocken zur Seite.
Eine Kirche schlug acht. Verdammt, er war wirklich viel zu spät dran. Und das ausgerechnet heute. Marlene, seine Freundin, hatte ihm zu seinem 21. Geburtstag sündhaft teure Eintrittskarten für eine Karnevalssitzung in den Sartory-Sälen geschenkt, und sollte er wegen seiner Verspätung Willy Millowitsch auf der großen Bühne verpassen, würde er sich das nie verzeihen. Und sie ihm garantiert auch nicht.
Es war wie jedes Mal, wenn er pünktlich gehen wollte. Kurz vor Feierabend, als würde er es riechen, kam sein Chef ins Büro und knallte ihm einen Stapel Unterlagen auf den Tisch, die bis zum nächsten Tag geprüft werden mussten. Kostenvoranschläge verschiedener Baufirmen, die korrekt erfasst werden mussten, um sicherzustellen, dass die internen Bauprojekte der Stadt Köln neutral und kostengünstig verteilt wurden. Helmut hatte es jedoch noch nie erlebt, dass seine Empfehlung in irgendeiner Form berücksichtigt wurde. Die Zuschläge erhielten immer Baufirmen, deren Chefs mit seinem Chef per Du waren. Und obwohl ihn diese Vorgehensweise ärgerte, hätte er sie nie laut infrage gestellt. Weil er den Lohn brauchte, um sich, seine Mutter und seine beiden Schwestern über die Runden zu bringen. Weil er Marlenes Vater keinen Ärger machen wollte, der ihm den Posten mit Aussicht auf eine Beamtenlaufbahn besorgt hatte, damit seine Tochter nicht mit einem ungelernten Hilfsarbeiter liiert war. Und weil es sich einfach nicht gehörte.
Helmut beschleunigte sein Tempo noch mal.
Seit drei Jahren waren Marlene und er nun ein Paar. Sie hatten sich über eine Flamme seines besten Freundes Gerdi kennengelernt, die jedoch schnell wieder erloschen war. Marlene aber war ihrem Freundeskreis erhalten geblieben und Helmut hatte als einer der Letzten kapiert, dass er der Grund dafür gewesen war. Eigentlich erst, als sein Freund Martin ihn eifersüchtig zur Rede gestellt hatte. Bis zu diesem Augenblick war Marlene für ihn nur ein unglaublich hübsches Mädchen gewesen, mit dem man erstaunlich viel lachen und prima über alles Mögliche reden konnte. Fast wie ein Kumpel. Und deswegen wäre er nie auf die Idee gekommen, dass sie Interesse an ihm hätte haben können – sie, die Direktorentochter an ihm, dem ungebildeten und mehr oder weniger mittellosen Schulabbrecher, der noch nie eine Freundin gehabt hatte. Aber es war so. Und als er dann auch noch miterlebt hatte, wie Marlene gegen den Widerstand ihrer Eltern für ihre Beziehung gekämpft hatte, hatte er sich dankbar auch in sie verliebt.
Seither tat er alles, um sie glücklich und stolz zu machen. Und verheimlichte ihr gleichzeitig, dass er manchmal schrecklich unglücklich war, weil es sich seit dem Tod seines Vaters vor sieben Jahren anfühlte, als wäre er nur dafür da, die Erwartungen anderer Menschen zu erfüllen. Die seiner Mutter, die seines Schwiegervaters, die seiner Kollegen … Es waren kurze, beklemmende Momente, in denen er so dachte, und er hasste sich jedes Mal dafür, weil er sich dabei schrecklich egoistisch und undankbar vorkam. Zum Glück waren die Momente wirklich sehr kurz.
Helmut bog in die Friesenstraße ein und übersah beinah einen Radfahrer, der ihm ohne Licht entgegenkam.
»Aus dem Weg!«
Er rettete sich zwar mit einem Sprung zur Seite, sein Zylinder rutschte dabei aber endgültig vom Kopf und landete zielgenau in einer Pfütze aus Dreck und Schneematsch.
»Verdammt!« Genervt hob er die triefende Kopfbedeckung von der Straße auf und wischte sie notdürftig sauber. Irgendwie schien sich heute alles gegen ihn verschworen zu haben. Jetzt war er nicht nur zu spät dran, sondern sah auch noch aus wie eine Vogelscheuche.
Doch bevor er sich weiter darüber ärgern konnte, wurde neben ihm lautstark die Tür einer Kneipe aufgerissen. Ein Mann landete unsanft vor ihm auf dem Asphalt.
»Spaghettifresser haben hier nichts zu suchen. Und unsere Frauen sind tabu. Verstanden?«
Aus der Kneipe drang zustimmendes Gemurmel, bevor die Tür mit Karacho wieder ins Schloss fiel. Der Mann auf dem Boden wälzte sich stöhnend auf den Rücken, und Helmut erkannte sofort, dass es sich um einen jungen Gastarbeiter aus Italien handelte, wie sie jetzt tausendfach zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Es war kein Geheimnis mehr, dass es mit denen ständig irgendwo Ärger gab.
»Stronzo!« Der Ausländer setzte sich auf und wischte sich mit seinem Handrücken eine Blutspur aus dem Mundwinkel.
Helmut verstand kein Italienisch, aber er ahnte, dass es sich bei diesem ausgespuckten Wort um keine Entschuldigung handelte. Es war ihm egal.
Und trotzdem konnte er es nicht lassen, diesem Fremden einen Rat zu geben. »Steh lieber auf, bevor der noch mal rauskommt. Der meint das ernst.«
Keine Reaktion. Der Kerl blieb einfach sitzen. Er schien es darauf anzulegen.
»Verstehst du mich?« Helmut betonte jede Silbe. »Der kommt raus, dann bumm und du Kopf kürzer.«
Wieder nichts, nur ein verärgertes Brummen. Er schaute die Friesenstraße runter, ob er Marlene entdecken konnte. Sie würde ihn gleich auch einen Kopf kürzer machen. Trotzdem streckte er seine Hand aus, es war eher ein Reflex als ein bewusstes Handeln.
»Hoch mit dir. Los. Und dann verschwinde.«
Nach kurzem Zögern griff der Italiener zu und ließ sich hochziehen. Doch statt abzuhauen, wie Helmut es ihm mit Handzeichen verdeutlichte, feuerte er in Richtung der Gastwirtschaft eine unverständliche Schimpftirade ab.
Helmut ging entsetzt dazwischen. »Bist du verrückt? Sei still.«
Seine Beruhigungsversuche hatten jedoch eine gegenteilige Wirkung, denn plötzlich trat der Italiener auch noch mit voller Wucht gegen einen schwarzglänzenden Opel Kapitän, der auf der Straße parkte. Keine Sekunde später wurde die Kneipentür wieder aufgerissen und ein bulliger Kerl stürmte direkt auf sie zu.
»Finger weg von meinem Auto. Euch Dreckspack werde ich’s zeigen.«
Helmut realisierte grade noch, dass er plötzlich mit diesem verrückten Ausländer in einen Topf gesteckt wurde, als er schon die Faust des Angreifers im Gesicht hatte. Ihm wurde schwarz vor Augen und er ging in die Knie. Der Schmerz kam zeitgleich mit dem metallischen Geschmack in seinem Mund.
Er versuchte wieder aufzustehen, doch seine Beine wollten ihm nicht gehorchen. Alles war wie im Nebel, nur von ganz weit entfernt drang italienisches