Wahrnehmungsbrillen und Landkarten
Schmetterlinge im Bauch, der Himmel voller Geigen, die Welt heiter und farbenfroh. Die sprichwörtliche rosarote Brille kennt jeder von uns. Und jeder von uns trägt sie: sogenannte Wahrnehmungsbrillen. Durch diese persönlichen, individuell gefärbten Brillen nehmen wir unsere Umgebung, uns selbst und andere unterschiedlich wahr und ziehen daraus unsere Schlüsse. Findet die eine, der neue Kollege sei ein Schnösel, sieht die andere in ihm einen selbstbewussten Typen. Mit guter Laune bewerten wir die Welt entschieden positiver als in mieser Stimmung. Je nachdem, wie wir die Dinge betrachten, erscheinen sie in anderem Licht. Wir nehmen immer nur bestimmte Aspekte wahr und blenden andere aus. Was wir erfassen, ist oft nur eine Illusion aufgrund des momentanen Blickwinkels. Unsere Sicht der Dinge ist lediglich eine Landkarte von vielen und sagt etwas über uns selbst aus. Ein Perspektivwechsel kann die Landkarte verändern.
Fragt sich also: Wie »wahr« ist eigentlich unsere Wahrnehmung? Unsere Wahrnehmung, und damit unser Denken, Fühlen und Verhalten, wird durch Vorannahmen mehr geprägt, als unserem rationalen Verstand lieb ist. Wenn Psychologen, die solche Phänomene entschlüsseln, von selektiver Wahrnehmung sprechen, heißt das im Grunde: Man sieht das, was man sehen will oder erwartet. Das, was wir »wissen«, ist nicht zuletzt eine Frage von Bewertung und Interpretation. Kein Zweifel, Wechseljahre sind biologisch bedingt, ihr Status hingegen hängt von Zeitgeist, Kultur und Anschauung ab. Wenn wir unsere subjektive Wahrnehmungsbrille nicht gelegentlich putzen, verwechseln wir Schlussfolgerungen mit Fakten. Die Redensart »Meine Meinung steht fest, bitte verwirren Sie mich nicht mit Tatsachen!« bringt es treffend auf den Punkt. Und das trifft selbst für die scheinbar objektive Sichtweise von Medizinerinnen und Medizinern zu.
Die medizinische Brille
Bitte lesen Sie einmal aufmerksam folgenden Text: »Wechseljahre sind eine Krankheit und nicht natürlich. Sie sind von Menschenhand geschaffen. Frauen wurden um 1897 38 Jahre alt. Eine Hormonersatzbehandlung bedeutet daher eine Zurückversetzung der Frau in ihren ›Naturzustand‹.«
Haben Sie sich gerade verwundert die Augen gerieben und sich gefragt, welch schlichtes Gemüt das verzapft hat? Wie auch immer, es ist kein Scherz, sondern ein wörtlicher Auszug aus Pressemitteilungen des Berufsverbands der Frauenärzte e.V., Landesverband Niedersachsen aus dem Jahr 2002 (Quelle: arznei-telegramm® 2002; 33: 97-8). Unter wissenschaftlichen Kriterien war die mit der ganzen Autorität der Standesvertreter verkündete Mitteilung eine Blamage. Sie entsprach zum Glück nicht der Auffassung aller Kollegen. So spottete etwa die renommierte amerikanische Ärztin Susan Love: »Wenn Östrogenmangel tatsächlich eine Krankheit wäre, hätten die Mediziner alle Männer für chronisch krank erklären müssen« (Dr. Susan Love, Das Hormonbuch).
Dass Ärzte eine medizinische Brille tragen, kann man ihnen nicht verübeln, schließlich ist es ihr Job, für die Gesundheit ihrer Patienten zu sorgen, Risiken zu erkennen und zu vermeiden. Wie aber kommt es, dass sie so viel Einfluss auf einen normalen Lebensabschnitt gewinnen konnten? Die schulmedizinische Ausbildung trainiert eine pathologisierende Sichtweise, das Idealmodell von Gesundheit ist der leistungsstarke männliche Körper. Folgt man dieser Richtschnur, ist der weibliche Organismus mit seinen hormonellen Schwankungen ein potenzielles Gesundheitsrisiko, natürliche Umbruchphasen wie Schwangerschaft, Geburt und schließlich das Klimakterium bedürfen der ärztlichen Vorsorge und Kontrolle. Mittlerweile gilt die Vorstellung, der Wechsel sei eine therapiebedürftige Erkrankung, als überholt und so heißt es nun im Ärzteblatt: »Das Klimakterium ist nicht nur eine Zeit der hormonellen Umstellung, sondern auch eine Lebensphase der psychosozialen Adaptation mit Abschieden, neuen Herausforderungen und notwendiger Aktivierung von Ressourcen.«
Mediziner, die ihre westlich geprägte Perspektive durch andere ergänzen, gehen das Thema Wechseljahre differenziert und ganzheitlich an. Solcher Erkenntnis folgt aber längst nicht jeder Arzt.
Bei einer Routineuntersuchung wurde Hanna, 49, von ihrem Frauenarzt auf die Gefahren des Klimakteriums und des drohenden Östrogenmangels hingewiesen, »der zu schwerwiegenden Spätfolgen führt«. Was Hanna besonders ärgert: »Dass er mir ungefragt Hormone empfehlen wollte. Obwohl ich mich pudelwohl fühle und auch gar keine will.«So ganz bleiben auch die Männer nicht verschont. Zunehmend gerät das »Klimakterium virile« ins Visier, die männlichen Wechseljahre. Dafür werden ähnliche Lösungen gestrickt: Ersetzen, was fehlt, durch hormonelle »Substitution«. Dass die Mehrzahl aller Menschen weltweit mit den Folgen eines längeren Lebens auch ohne Hormonpillen klarkommt, gerät aus dem verengten Blickfeld. Probleme und Befindlichkeiten, die mit dem Älterwerden in Zusammenhang stehen, können und sollen einfach wegtherapiert werden. Die Vorstellung, das Alter, insbesondere das der Frau, sei etwas tendenziell Bedrohliches, hat unser Denken stark geprägt. Daran hat auch die Berichterstattung in den letzten Jahren nicht wirklich viel verändert.
Die öffentliche Brille
In der Öffentlichkeit waren Wechseljahre lange ein Tabuthema. Heute findet sich kaum eine Illustrierte, kaum ein Gesundheitsmagazin, das nicht darüber berichtet. Immer wieder wird mit Nachdruck betont, das Klimakterium sei etwas ganz Natürliches. Allein der rechte Glauben daran fehlt. Wechseljahre und Beschwerden gehören zusammen wie der sprichwörtliche Deckel zum Topf. Schweißausbrüche, Migräneanfälle, Schlafstörungen, Depressionen – sobald die Kinder aus dem Haus sind, schwebt das Grauen des Alterns über uns Frauen, raubt uns Weiblichkeit und gesellschaftliche Attraktivität, der Gatte flüchtet in die Arme unserer jüngeren Alterskonkurrenz. Selbst die renommierte Frankfurter Allgemeine Zeitung, die in einem Artikel gegen den üblichen Mainstream ruderte, tat das unter der Flagge »Paukenschlag der Weiblichkeit« – so die reißerische Schlagzeile. Auch die Titel mancher Ratgeber lassen uns angstvoll erschauern: Wechseljahre, ein behandelbares Schicksal.
Zum Glück halten nicht alle für bare Münze, was Aufmacher, wie jüngst der in einer Frauenzeitschrift, versprechen. Da heißt es: »Wechseljahre machen so sexy«. Darüber mokierte sich eine Kursteilnehmerin: »›Sexy machen‹ heißt in dem Fall wohl für blöd verkaufen. Wer glaubt denn, dass Schwitzen sexy macht?« Ob »Lustvoll durch die Wechseljahre« oder »Diese schrecklich schönen Jahre«: Werbung und Medien spielen gezielt mit unseren Emotionen, selbst wohlgemeinte Ratgeber. »Sex sells« gilt sowieso (fast) immer, und Angst vor dem Alter verkauft sich bestens. Das Klimakterium ist schließlich ein Verkaufsschlager und die Scharen von Frauen in der »kritischsten Phase ihres Lebens« sind kaufkräftige Kundinnen. Eine Flut an Maßnahmen, die gegen die leidigen Auswirkungen des Wechsels ankämpfen sollen, steht bereit und manch eine verliert in dem unüberschaubaren Angebot an Nahrungsergänzungsmitteln, Hormonberatungen, Hormonkochkursen, Hormonkosmetik und anderen Lifestyle-Produkten den Überblick und die Nerven. Selbst die, die eigentlich keine oder wenig Probleme haben. So wie Gabriele, 56, die mich deshalb um einen Termin bat.
Auf meine Frage, was denn zu besprechen sei, antwortete sie: »Also, meine letzte Mens, die ist über ein halbes Jahr her. Mein Frauenarzt sagt: Menopause.« Kurzes Schweigen. Dann Gabriele: »Also …, soll ich einfach abwarten oder doch lieber nachhelfen?« Meine Gegenfrage: »Ja, wobei denn? Haben Sie Probleme?« Gabriele, zögernd: »Das nicht, aber wegen des Östrogenmangels …, ich bin ja eigentlich gegen Pillen, aber andererseits … muss man nicht doch