Was hat es mit dieser Achtsamkeit auf sich, werden Sie sich fragen, dass man damit Standing Ovations von Teenagern ernten kann?
Nach einer stillen 10-minütigen Atemübung, stellte eine junge Frau im Publikum eine wichtige Frage: „Ich bin fast eingeschlafen. Was soll ich dagegen tun?“ „Sind Sie müde?“, fragte ich. „Sobald ich aufhöre, etwas zu tun, breche ich zusammen“, sagte sie. Auf meine Frage, was sie denn die ganze Zeit zu tun hätte, verwies sie genervt auf eine lange Liste von Klassenarbeiten, Freizeitaktivitäten und familiären und sozialen Verpflichtungen. Ich antwortete: „Wir alle tun so viel für die Schule, für unsere Eltern oder um vor unseren Freunden cool dazustehen, dass wir tief in unserem Innersten todmüde sind. Nicht die Achtsamkeit macht uns müde, sie zeigt uns nur, wie müde wir eigentlich sind.“ Der ganz Raum schien unisono zu nicken. „Vielleicht sollten wir den Mittagsschlaf aus der Kindergartenzeit in allen Klassen wieder einführen“, schlug ich vor.
Breites Grinsen auf den Gesichtern der Schüler, dann Applaus, Gejohle und schließlich Standing Ovations. Standing Ovations für einen Mittagsschlaf? Diese Schüler und viele andere Schüler in der ganzen Welt sind zutiefst gestresst. Sei es in den Schulen im verarmten Oakland, in denen ich arbeite, oder in progressiven Privatschulen, die Schüler schreien förmlich nach Ruhe. Sie brauchen eine Umgebung, in der ihr Nervensystem, sich entspannen und erholen kann. In meiner Psychotherapiepraxis und auf meinen Reisen zu Schulen auf der ganzen Welt frage ich die Kinder immer, ob sie gerne zur Schule gehen. Traurigerweise blicken mich die meisten verdattert an, so als ob ihnen der Gedanke, man könne gerne zur Schule zu gehen, völlig absurd erscheinen würde.
Selbst heute schrecke ich noch manchmal aus Träumen auf, in denen ich wieder zur Schule gehe und für einen Test nicht vorbereitet bin. Wenn unser Nervensystem in Alarmbereitschaft steht, oder wir von selbstkritischen Gedanken überschwemmt werden, dann funktioniert unser Arbeitsgedächtnis nur mangelhaft und unsere Kreativität und unsere Fähigkeit zur Zusammenarbeit sind eingeschränkt. Bei der achtsamen Erziehung setzen wir voraus, dass uns allen der Keim der besten menschlichen Eigenschaften, wie Mitgefühl, Kreativität, Integrität und Weisheit, innewohnt. Unter diesem Gesichtspunkt bedeutet Erziehung idealer Weise, die Kinder auch im Unterricht so zu behandeln, dass diese wunderbaren schlummernden Eigenschaften erblühen können. Statt einer Atmosphäre von Stress, Konkurrenz und Strafe bemühen wir uns um Akzeptanz, Zuwendung und Ermutigung. Wir beginnen damit, das Kind genau so zu akzeptieren, wie es ist; Diese Art von Aufmerksamkeit unterstützt die Kinder dabei, ihr volles Potential zu erschließen. Wie jeder Lehrer weiß, fällt Lernen leicht, wenn die Schüler sich sicher fühlen und entspannt und aufmerksam sind.
Als die Jugendlichen für einen Mittagsschlaf applaudierten, dachte ich an die Bemühungen, den morgendlichen Schulbeginn im Gymnasium nach hinten zu verschieben. Es scheint für Teenager biologisch gesünder zu sein, etwas später aufzuwachen. Das hat nichts damit zu tun, dass sie faul oder stur sind, sondern entspricht einfach ihrer biologischen Uhr. In diesem Sinne beschlossen zwei Schulen in Minnesota einen späteren Schulbeginn, was zu einer deutlich niedrigeren Schul-Ausfallsrate, weniger Depressionen und besseren Noten führte (Wahlstrom, K., 2002). Jeder Teenager auf der ganzen Welt würde uns sagen, dass es für ihn besser ist, später schlafen zu gehen und später aufzustehen. Wir hätten bloß fragen müssen.
Wenn wir unseren Schülern nicht zuhören, führen wir einen ständigen Kampf gegen sie. Wenn wir auf ihren natürlichen Bewegungsdrang nicht eingehen, müssen wir entweder ständig dagegen ankämpfen oder sie durch Medikamente ruhig stellen, damit sie den ganzen Tag ruhig sitzen bleiben. Wenn wir unseren Schülern keine gesunden Wege zeigen, um schwierige Gefühle auszudrücken, dann werden sie uns letztlich dauernd durch ihr Verhalten frustrieren. Wenn wir ihnen nicht beibringen, wie man aufmerksam ist, bleibt uns nichts übrig, als sie anzuschreien, wenn sie unaufmerksam sind. Unzählige Lehrer haben mir ihr Leid geklagt, weil sie das Gefühl haben, sich in einem Kriegszustand zu befinden, in dem genau die Kinder ihre Gegner sind, denen sie eigentlich helfen wollen.
Jahr für Jahr beobachte ich, wie Lehrer an ihrem ersten Unterrichtstag motiviert und hoffnungsvoll wie ein kleines Kind das Klassenzimmer betreten. Doch traurigerweise sind sie bereits gegen Ende des ersten Schuljahrs vollkommen überlastet und sehnen den letzten Schultag herbei. Die National Commission on Teaching and America’s Future berichtet, dass 46 Prozent aller neuen Lehrer in den Vereinigten Staaten ihrem Beruf innerhalb von fünf Jahren wieder den Rücken kehren. „In den Jahren 1987–88 hatte der durchschnittliche Lehrer 15 Jahre Erfahrung, bereits im Jahre 2007–08 waren es nur mehr 1–2 Jahre“ (Black, L. u. a., 2008). Die Ausfallrate der Lehrer ist höher als die der Kinder. Bevor guter Unterricht und effektives Lernen stattfinden kann, müssen wir ein Umfeld schaffen, in dem Lehrer und Schüler nicht nach dem Notausgang suchen müssen. Wir müssen uns um das Innenleben von Lehrern und Schülern kümmern.
Die Geschichte der achtsamen Erziehung
Nach dem Zweiten Weltkrieg beauftragte die Weltgesundheitsorganisation den Psychologen John Bowlby die psychische Gesundheit der Kinder in Europa zu untersuchen. In seinem Fachgutachten lesen wir: „Wenn der Säugling und das Kleinkind seine warme, intime und dauerhafte Beziehung zu seiner Mutter (oder einem Mutterersatz) hat, erleben beide Befriedigung und Freude“ (Bowlby, J., 1951). Das mag Ihnen nicht besonders bemerkenswert erscheinen; das Schockierende an dieser Aussage ist, dass sie für die Eltern und Lehrer dieser Zeit durchaus revolutionär war. Bowlbys Meinung, dass Kinder Wärme und Zuwendung brauchen, um zu gesunden Erwachsenen heranzuwachsen, wurde heftig angegriffen. Viele waren der Ansicht, solange ein Kind genügend Nahrung und ein Dach über dem Kopf hätte, würde es dem Kind gut gehen. Wenn ein Kind emotional- oder verhaltensauffällig war, wurde das nicht mit möglicher Vernachlässigung oder Missbrauch in Verbindung gebracht. Je mehr auf diesem Gebiet geforscht wird, desto offensichtlicher ist der Zusammenhang zwischen dem emotionalen Umfeld eines Kindes und seiner geistigen und körperlichen Entwicklung, ja selbst seinem beruflichen und privaten Erfolg als Erwachsener.
Natürlich war die Vorstellung einer emphatischen Präsenz beim Unterricht nicht vollkommen neu. Pädagogische Visionäre wie Maria Montessori und Rudolf Steiner traten schon lange vor Bowlbys Studie für sinnlich und emotional zugängliches Unterrichten ein. Wenn wir die Ursprünge unserer Sprache zurückverfolgen, sehen wir, dass das Wort Lernen denselben etymologischen Wurzeln entstammt, wie die Begriffe Spur und Erforschen. Einstmals fand Lernen nicht an rechteckigen Schreibtischen statt, sondern unter freiem Himmel, unter dem unsere Vorfahren ihren Eltern über Stock und Stein folgten und lernten, die Fährten von Reh, Fuchs und Bär zu erkennen. Man lernte nicht über Sterne, Tiere und die vier Elemente sondern von ihnen. Sein Kind mit zur Arbeit zu nehmen war eine Selbstverständlichkeit. Ursprünglich war Lernen eine ganzheitliche, beziehungsbezogene und rein sinnliche Erfahrung.
Obwohl einigen Lehrern, die Bedeutung ganzheitlichen Lernens schon immer bewusst war, haben die Lehrpläne der öffentlichen Schulen bis jetzt sehr wenig dazu beigetragen, um das volle Spektrum emotionaler, sozialer, physischer und anderer Facetten des „ganzen Kindes“ zu berücksichtigen. In den frühen 80-er Jahren stellte Howard Gardner seine Theorie der „multiplen Intelligenzen“ auf (Gardner, H., 1983). In dieser Theorie beschreibt Gardner neun relativ unabhängige Bereiche der menschlichen Intelligenz, die allesamt gefördert und trainiert werden müssen. Sie sind: die sprachliche, die logisch-mathematische, die musikalische, die bildlich-räumliche, die körperliche, die interpersonale, die intrapersonale, die naturalistische und die existentielle Intelligenz. Wenn wir uns die Bedeutung all dieser meist vernachlässigten Aspekte vor Augen führen, entdecken wir möglicherweise auch in uns selbst Aspekte, die von Eltern und Schule unbeachtet geblieben sind.
Als ein eher interpersonal, intrapersonal, naturalistisch und existentiell denkender Mensch, hatte ich in der Schule immer das Gefühl, nicht klug genug zu sein. Aufgrund des logisch-mathematisch orientierten Schulsystems, in dem ich aufwuchs, dachte ich oft, dass „irgendetwas mit mir nicht stimmt“. Wie viele Kinder, denen – genau wie mir – Auswendiglernen und mathematisches Denken nicht liegen, fühlen sich hilflos, kommen mit dem Stoff nicht zurecht und leben dann jahrelang in dem Gefühl, hinterherzuhinken.