Seit Daniel Goleman den Begriff „emotionale Intelligenz“ prägte, steht neben dem reinen IQ auch der EQ („Emotionaler Quotient“) im Blickpunkt pädagogischer Diskurse. Golemans Arbeit unterstützte die Befürworter des „Sozialen Emotionalen Lernens“ (SEL), die schon in den späten 60-er Jahren die wertorientierte Bildungsarbeit in die Schulen brachten. Ausgehend von dem medizinischen Fachbereich des Yale Child Study Center verbreiteten sich die Programme für SEL in den größten amerikanischen Schulbezirken und auf der ganzen Welt. Es stellte sich heraus, dass sie nachgewiesenermaßen Emotionsregulation, Sozialkompetenz und Resilienz fördern und die akademischen Leistungen um 13 Prozent verbessern konnten (Durlak, J. u. a., 2011).
SEL-Programme unterstützen Schüler bei der Entwicklung folgender fünf sozial-emotionaler Kompetenzen:
• Selbstmanagement
• Eigenwahrnehmung
• soziales Bewusstsein
• Beziehungsfähigkeit
• verantwortliches Handeln.
Eine der führenden Visionäre des SEL ist Linda Lantieri, die Direktorin des „Inner-Resilience-Program“ und Gründungsmitglied der „Collaborative for Academic, Social and Emotional Learning“ (CASEL). Bei einer Konferenz über Achtsamkeit in der Schule am Omega-Institut leitete ich eine Diskussion mit Lantieri, Goleman und dem Neurowissenschaftler, Autor und Professor für Psychiatrie Daniel Siegel. Lantieri und Goleman berichteten ausführlich von ihren ersten Gesprächen 20 Jahre zuvor, aus denen schließlich CASEL hervorgehen sollte. Ich fragte diese beiden Visionäre, die einen grundlegenden Beitrag zum Wandel unseres Verständnisses von Erziehung leisteten, welche Rolle Achtsamkeit in der Zukunft unseres Schulsystems spielen könnte.
Die Antwort war eindeutig. Sie sprachen über die Kernkompetenzen des SEL und erklärten, dass Achtsamkeitsübungen der geeignetste Weg seien, um diese Kompetenzen auszubilden. Siegel fasste alles bisher über SEL und Achtsamkeit gesagte in einem Wort zusammen: Integration.
Er erklärte Lantieris und Golemans Aussagen über die Auswirkungen von Achtsamkeit auf Verhalten, Gefühle und Aufmerksamkeit aus dem Blickwinkel der Neurowissenschaft. Er beschrieb, wie Achtsamkeitsübungen die Integration unterschiedlicher Hirnareale fördert und sie durch synaptische Verbindungen vernetzt. Wenn das Gehirn durch Achtsamkeit auf diese Weise vernetzt wird, dann entwickeln sich die fünf Kompetenzen Selbstmanagement, Selbstwahrnehmung, Sozialbewusstsein, Beziehungsfähigkeit und verantwortliches Handeln von alleine.
Statt die Kinder zu ermahnen, doch freundlich, aufmerksam und ausgeglichen zu sein, fördert eine Achtsamkeitspraxis diese Eigenschaften aktiv. Deswegen bezieht der auf Ethik und Wertschätzung basierende Lehrplan vieler SEL-Programme auch Achtsamkeitsübungen mit ein. Deswegen ist Achtsamkeit eine große Bereicherung und Ergänzung für die Weisheit des sozial emotionalen Lernens, der Theorie der multiplen Intelligenzen und anderer bewusster Erziehungsphilosophien. Statt bestehende pädagogische Paradigmen einfach beiseite zu schieben, unterstützt Achtsamkeit die kognitiven, physischen und zwischenmenschlichen Aspekte des Lernens.
Die verschiedenen Ansätze
Viele Jahre lang fragten wir uns als aktive Befürworter von Achtsamkeit in der Schule, wie ein auf Achtsamkeit basierendes Curriculum eigentlich aussehen sollte. Dabei haben sich drei wichtige Herangehensweisen herauskristallisiert, um Kinder und Jugendliche an Achtsamkeit heranzuführen. Viele Schulen, Organisationen, Horte, Jugendstrafanstalten, therapeutische Einrichtungen und andere Institutionen sind dabei, sich diese überaus wertvollen Praktiken zunutze zu machen. Wenn wir uns damit beschäftigen, wie wir ein achtsames Klassenzimmer schaffen können, ist es hilfreich, zu schauen, wie andere an diese Aufgabe herangegangen sind. Die drei wichtigsten Faktoren sind:
• Training und Selbstfürsorge für Lehrer
• direkte Anleitung der Schüler
• Integration in den Lehrplan
Training und Selbstfürsorge für Lehrer
Viele Organisationen konzentrieren sich ausschließlich auf die Entwicklung von Achtsamkeit bei den Lehrern selbst. Diese Ausbildungen unterstützen Lehrer dabei, für sich selbst zu sorgen. Die Idee dahinter ist, dass das Wohlbefinden des Lehrers unmittelbare Auswirkungen auf das Klassenklima und die Schüler hat. Die Programme, die in erster Linie mit den Lehrern arbeiten, gehen davon aus, dass Achtsamkeit eigentlich nur von einem erfahrenen Praktizierenden gelehrt werden kann. Lehrer in diesen Ausbildungen blicken oft frustriert auf andere Achtsamkeitsanbieter, deren Absolventen die Übungen, die sie unterrichten, womöglich nie selbst praktiziert haben. Stellen Sie sich einen Lehrer vor, der auf einen Gong einschlägt und die Kinder anschnauzt, endlich still zu sein und sich zu entspannen. Statt den Kindern ein Weg zu innerer Freiheit zu zeigen, wäre das Gehorsam und Kontrolle unter dem Deckmantel der Achtsamkeit.
Ein solches Training kann ganz einfach in Form einer berufliche Weiterbildung stattfinden, bei der die Lehrer Massagen bekommen und Entspannungstechniken erlernen. Andere Ausbildungen dauern ein ganzes Jahr und beinhalten ein fünftägiges Achtsamkeits-Retreat und ausführliche Unterweisung zu den Themen Körpergewahrsein, emotionale Intelligenz und Schulung des Geistes.
Für sich selbst zu sorgen, ist immer eine gute Idee. Zeit und finanzielle Mittel sind für Schulen immer begrenzt und längere Ausbildungen können teuer und für Lehrer schwer leistbar sein. Deswegen ist es ein wichtiges Anliegen, solche Ausbildungen für alle in der Kinderbetreuung tätigen Menschen so kostengünstig wie möglich anbieten zu können.
Einige Organisationen, die diesem Ansatz folgen: Inner Resilience Programm, CARE for Teachers, SMART in Education und Parler Palmer’s Courage and Renewal Programs.
Direkte Unterweisung der Schüler
Viele Organisationen bieten eine direkte Anweisung der Schüler durch erfahrende Praktizierende an. Diese externen Trainer arbeiten in Einrichtungen für jugendliche Straftäter, an Schulen oder in der Nachmittagsbetreuung und unterweisen die Kinder und Jugendlichen dort direkt in Achtsamkeitspraktiken. Wir stellen auch fest, dass immer mehr Schulen eine eigene Stelle für soziales emotionales Lernen und Achtsamkeit schaffen. Dieser Lehrer geht in die verschiedenen Klassen, um die Schüler in Achtsamkeit zu unterrichten, oft gibt es auch einen eigenen Raum, den Gruppen und Einzelne für ein wenig extra Achtsamkeitszeit aufsuchen können.
Organisationen, die direkte Unterweisung anbieten, beschäftigen meist Lehrer mit langjähriger Erfahrung und Lehrkompetenz, die in der Lage sind, die Praxis auf sehr inspirierende Weise weiterzugeben. Eine tiefgehende Achtsamkeitspraxis zu entwickeln, verlangt große Sorgfalt und diese Praktiken gekonnt zu kommunizieren, ist eine echte Kunst, deswegen ist es wirklich vorteilhaft einen Achtsamkeitslehrer mit viel Erfahrung einzusetzen.
Das Problem mit der direkten Unterweisung ist, dass es diesen großartigen Lehrern zwar oft gelingt, den Schülern völlig neue Sichtweisen zu eröffnen, sie aber die Schule irgendwann wieder verlassen müssen. So bleiben die systemischen Veränderungen oft aus. Aus dem Grund birgt die direkte Unterweisung sogar die Gefahr, dass die Schüler in ihrer gerade entwickelten Authentizität durch ein Umfeld, dem die nötige Bewusstheit fehlt, nicht bestärkt, sondern verurteilt oder unterdrückt werden. Wenn der Klassenlehrer das Konzept der Achtsamkeit nicht mitträgt, dann mag das, was ein Außenstehender vermittelt, in direktem Widerspruch zu dem stehen, wie der Lehrer die Klasse unterrichtet.
Einige Beispiele für Einrichtungen, die diesem Ansatz folgen: Mind Body Awareness Project, Holistic Life Foundation, Mindful Schools, the Lineage Project.
Integration in den bestehenden Lehrplan
Der dritte Ansatz geht davon aus, dass Achtsamkeitsunterricht per se förderlich für die mentale, emotionale und körperliche Entwicklung aller Kinder ist. Das heißt, dass jede Form der Anleitung, die die Kinder lehrt zu atmen, sich ihrer Denkmuster bewusst zu sein und sich in den Körper hinein zu entspannen, unglaublich hilfreich ist, selbst wenn sie von einem Lehrer kommt, der selber keine gründliche Ausbildung durchlaufen hat. Der gesamte Unterricht sollte so bewusst wie möglich gestaltet werden. Diese Ansicht führte