Ich erinnere mich daran, wie ich mit etwa vier Jahren in das Zimmer meines Vaters spazierte und ihn bewegungslos, mit überkreuzten Beinen auf seinem Bett sitzen sah. Einen Augenblick lang stand ich da, verwirrt. Ich nahm eine Stille wahr, die ich nicht kannte. Obwohl er bloß dasaß und nichts tat, war hier offensichtlich gerade etwas Bedeutsames im Gange.
Ich stand da wie angewurzelt, bis er seine Augen öffnete und mir bedeutete, zu ihm zu kommen. Ich kletterte auf sein Bett und bekam meine erste Lektion in Achtsamkeit. Ich lernte zu beobachten, wie der Atem in mich hinein und aus mir heraus strömte. Bei jedem Einatmen sollte ich zählen: „eins, zwei, drei…“ Jedes Mal, wenn meine Aufmerksamkeit sich auf und davon machte, sollte ich zu meinem Atem zurückkehren und wieder von vorne zu zählen beginnen.
Mein Bruder und ich versuchten einen Wettkampf daraus zu machen, um herauszufinden wer länger durchhalten konnte, ohne zu denken. „Ich bin bis 23 gekommen“, sagte ich. „Unmöglich, Du lügst!“ erwiderte er. Wir merkten schnell, dass es nicht möglich war, die innere Erfahrung des anderen zu überprüfen und es daher vollkommen sinnlos war, um die Wette zu meditieren. Schon bald gaben wir auf und spielten lieber wieder Baseball oder Dame, doch diese erste Berührung mit der Funktionsweise meines Geistes sollte der Beginn einer lebenslangen Forschungsreise sein.
Schon früh fesselten mich grundlegende existenzielle Fragen. Warum war ich hier? Was erwartete mich, wenn ich starb? Ich war eines dieser Kinder, deren Wissensdurst die großen Fragen des Lebens betraf, und die Umgebung, in der ich aufwuchs, schätzte und nährte diesen Forschergeist. Ich hatte das große Glück, dass meine Eltern und die Lehrer am Omega-Institut, diesen frühen, kosmischen Fragen aufmerksam und verständnisvoll begegneten. Doch wenn ich meinen zehnjährigen Schulfreunden Fragen stellte, wie: „Was glaubst du, passiert mit unserem Geist, wenn wir sterben?“, erntete ich bloß starre, erschrockene Blicke.
Da ich nicht wusste, wie ich mit meinen Altersgenossen und Lehrern über meine Erfahrungen sprechen konnte, begann ich mich in zwei Persönlichkeitsteile zu spalten. Da gab es mein „soziales Selbst“, das mit meinen Freunden spielte, Samstag Morgens Cartoons schaute und an meinem kleinen Schreibtisch qualvolle Tabellen auswendig lernte. Ich versuchte ein möglichst normales amerikanisches Kind zu sein. Ich setzte mich mit Stift und Papier vor MTV und machte Notizen, was man tun musste, um cool zu sein. In der dritten Klasse gründete ich eine Rap-Gruppe und trug Air Jordan Turnschuhe und Hip-Hop Klamotten, die mir zehn Nummern zu groß waren. Obwohl es meinem sozialen Selbst gelang, in dieser Kultur des Coolseins akzeptiert zu werden, lechzte mein „authentisches Selbst“ danach, integriert zu werden. Die Schule war in jedem Fall ein Ort, an dem mein authentisches Selbst sich wie ein Fremder fühlte, der versucht als Einheimischer durchzugehen. Ich verstand nicht, warum sich kein Mensch in der Schule über die großen Fragen Gedanken machte.
Ich musste mir die ganzheitliche Bildung, nach der sich mein Körper, mein Geist und mein Herz sehnte, aus den unterschiedlichsten Bereichen zusammensuchen. Das Studium der westlichen Philosophie auf dem College nährte meinen Geist, ließen mein Herz und meinen Körper jedoch leer und unbefriedigt zurück. Mein Aufbaustudium in Psychologie erfüllte mein Bedürfnis nach emotionaler und sozialer Weiterentwicklung, vernachlässigte jedoch meinen Körper. Als ich viel Zeit mit indigenen Lehrern in der freien Natur verbrachte, Tai Chi praktizierte und tanzte (sehr viel tanzte), verhalf mir das zu einem vertieften Körpergewahrsein. In dieser ganzen Zeit war meine Achtsamkeitspraxis der Leitstern, der meinen Weg durch Selbst-Gewahrsein erhellte. Mein bisheriges Leben war ein Pfad der Integration, auf dem mein authentisches Ich und mein soziales Ich allmählich zueinander fanden.
Als ich zum Omega-Institut zurückkehrte, um die Mindfulness in Education-Konferenz zu leiten, wurde mir klar, dass ich dieselbe empathische Erziehung, die ich selbst genossen hatte, anderen zugänglich machen wollte. Normalerweise laden wir etwa 300 Lehrer zu einem Wochenende voll inspirierender Vorträge, Übungen und Gemeinschaftsarbeit ein. Bald wurde mir klar, dass ein Wochenende bei Weitem nicht ausreichte, um Lehrern eine profunde Achtsamkeitspraxis zu vermitteln, sie verinnerlichen und unterrichten zu können. Schließlich leitete ich fünftägige Retreats, die uns ein intensiveres Eintauchen ermöglichten, doch immer noch schien es, die Teilnehmer bräuchten mehr. 2011 rief ich das Mindful Education-Institut ins Leben, eine Lehrerfortbildung, die ein Jahr lang dauerte. So konnte man ein einwöchiges Schweige-Retreat unterbringen und die Teilnehmer hatten die Möglichkeit, ein ganzes Jahr als Gemeinschaft zu verbringen, um das, was sie zusammen gelernt hatten, in ihre Welt zu tragen.
Man kann diese Bewegung weder in einer Wochenendkonferenz, noch in einer einjährigen Ausbildung und auch nicht in diesem Buch zusammenfassen. Ich lade Sie ein auf eine Reise zu einem neuen Paradigma; eines bei dem wir mit unseren Schülern zusammen lernen und lehren, was es erforderlich macht, sich einzugestehen, dass wir alle „work in progress“, also in Entwicklung befindlich und unfertig sind. Wie kleine Kinder, die Laufen lernen, indem sie immer und immer wieder hinfallen, biete ich Ihnen meine eigenen unbeholfenen Versuche an, ein Lehrer zu sein, der diesen Namen verdient hat, und lade Sie ein, mit mir in eine Zukunft zu stolpern, die unvorstellbar inspirierend ist. Ich habe in Hunderten von Klassenzimmern auf der ganzen Welt unterrichtet, und doch hatte ich noch nie eine Vollzeitstelle als Klassenlehrer; ich erkenne immer wieder voll Demut, wie viel ich nicht weiß. Ich möchte ein Autor sein ohne autoritär zu sein. In diesem Sinn lade ich auch Sie ein, ein Art Lernkumpan zu werden, statt von oben herab zu unterrichten. Dieses Buch ist eine gemeinsame Reise. Ihr Wissen und Ihre Erfahrung ist etwas, von dem wir alle lernen können. Die Weisheit einer Gruppe ist stets größer als die eines Einzelnen.
Ich kann mit Sicherheit sagen, dass all das, was wir für eine mitfühlende Gesellschaft brauchen, bereits da ist. So, als ob wir uns ein wunderschönes Haus wünschen und neben einem Riesenstapel von Holz und Werkzeug ständen. Ich habe von meiner Tätigkeit als Achtsamkeitslehrer gelernt, dass selbst Vorschulkinder Impulskontrolle, Mitgefühl, Aufmerksamkeit, kommunikative Fähigkeiten und Spannungsabbau erlernen können – alles nötiges Baumaterial für ein gesundes, glückliches und verantwortungsbewusstes Leben. Wir haben die Materialien. Nun liegt es an uns, das Haus zu bauen.
Wie dieses Buch aufgebaut ist
Teil I ist: Warum Achtsamkeit in der Schule wichtig ist. Achtsamkeit in der Schule ist nichts vollkommen Neues. Wir beginnen diese Reise mit einer Einführung in die großartige Arbeit, die auf diesem Gebiet bereits geleistet wird und in den unterschiedlichsten Formen an die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen weitergegeben wird. Dazu müssen wir zunächst einmal die Frage stellen, was Achtsamkeit eigentlich ist. Achtsamkeit hat trotz all ihren modernen Anwendungsformen uralte Wurzeln. Wir haben große Bemühungen unternommen, um die Auswirkungen dieser Praxis auf unseren Geist, unseren Körper und unser Herz durch neueste wissenschaftliche Untersuchungen zu beleuchten. Wir befassen uns damit, wie Achtsamkeit sowohl unsere Schüler als auch uns als Lehrer unterstützen kann.
In Teil II, Beginne bei Dir selbst, lernen wir, dass die eigene Achtsamkeit unumgänglich ist, wenn man Achtsamkeit lehren möchte. Daran führt kein Weg vorbei. Wenn Sie Vater, Mutter, Lehrer, Therapeut und einfach ein Mensch sind, in dessen Leben Kinder eine Rolle spielen, ist das größte Geschenk, das Sie ihnen machen können, Ihre eigene authentische Präsenz. In diesem Sinn ist dieser Abschnitt des Buches dazu gedacht, Ihnen die Kunst der Achtsamkeit nahezubringen, so dass Sie sie dann bei Ihren Schülern anwenden können. Selbst wenn Sie nur diesen Teil des Buches lesen, haben Sie die Möglichkeit Ihr Klassenzimmer zu wandeln. Wir beschäftigen uns auch mit einigen psychologischen Grundlagen, wie wir uns unser selbst bewusst wahrnehmen und Projektionen auf unsere Schüler vermeiden können. Danach lernen wir unseren Körper bewusst zu spüren, unsere Aufmerksamkeit zu fokussieren, Mitgefühl zu entwickeln und achtsam durch den Alltag zu gehen.
In Teil III, Ein achtsames Klassenzimmer schaffen, geht es darum, wie wir diese Lehre von einem inneren Ort des Mitgefühls und der achtsamen Präsenz aus in unser Klassenzimmer bringen können. Wir besprechen, was einen achtsamen Lehrer ausmacht und auf welche Weise wir unsere Praxis mit unseren Schülern anwenden können. Wir betrachten einige essentielle Bestandteile eines achtsamen Klassenzimmers, wie den Gesprächskreis, die Friedensecke und das gemeinsame Treffen von Klassenvereinbarungen.
Wir untersuchen verschiedene Herangehensweisen und die beste sprachliche Umsetzung, um die Inhalte