Die achtsame Schule. Daniel Rechtschaffen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Daniel Rechtschaffen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783867812214
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untersuchen, welche Auswirkungen Stress und Trauma auf die Schüler hat und wie man damit umgehen kann.

      Dieses Buch ist eine Einladung zur Selbst-Erkundung; damit wir mit einem weit geöffneten Herzen erwachen für die Welt um uns und zum Wegbereiter für eine völlig neue Art des Seins werden. Ich lade Sie ein, sich mit mir zusammen mutig und engagiert auf den Weg der Hoffnung zu begeben.

      Die achtsame Schule

      Teil I

      Warum Achtsamkeit in der Schule wichtig ist

      Der Weg der Achtsamkeit

      Beginnen wir unsere Erkundung der Achtsamkeit mit einem kleinen Experiment. Beobachten Sie einmal, wie Ihre Augen mit den Buchstaben dieses Textes beschäftigt sind, während Sie lesen. Halten Sie am Ende dieses Absatzes inne und versuchen Sie, die Buchstaben als einfache Formen wahrzunehmen, wie ein Baby, das die verschiedenen Formen voll Staunen durch seine Augen fließen lässt. Entspannen Sie Ihre Augen und Ihren Körper, nehmen Sie den Text wie ein Kunstwerk in sich auf und lösen Sie sich von dem Bedürfnis, den Worten eine Bedeutung beizumessen.

      Machen Sie eine kleine Pause, sobald Sie diesen Absatz fertig gelesen haben und achten Sie auf die Geräusche, die Gerüche, die Temperatur um Sie herum, nehmen Sie das Pulsieren Ihres Körpers wahr, ohne diese Erfahrung auf irgendeine Weise zu benennen. Das Geräusch muss nicht als „Heizung“, der Geruch nicht mit „Pfannkuchen“ benannt werden. Schauen Sie, ob Sie die Sinneswelt um Sie herum ein paar Minuten lang einfach wie eine wunderschöne Sinfonie in sich aufnehmen können.

      Um zu verstehen, was Achtsamkeit ist, muss man sie zunächst einmal am eigenen Leib erfahren. Wenn ich das erste Mal vor einer Klasse stehe, frage ich immer, ob irgend jemand schon von dieser „Achtsamkeit“ gehört hat. Ich möchte wissen, welche Vorstellung die Schüler davon haben. Früher hatten meine Studenten keine Ahnung, was Achtsamkeit ist. Wenn ich diese Frage heute stelle, gehen fast alle Hände nach oben. Die Antworten, die ich dann zu hören bekomme, reichen von Definitionen, die gut und gerne von einem Gelehrten stammen könnten bis zu: „Ist das nicht das, was Oprah macht?“*

      Nachdem ich mich vorgestellt habe und im Gegenzug ein wenig über meine Schüler erfahren habe, lade ich die Klasse ein, eine Minute lang in aufmerksamer Stille zu sitzen. Oft sind die Schüler danach erstaunt, sie sagen Dinge wie „Es war so still, ich glaube ich habe das Summen der Lampen gehört.“ Sie sind begeistert. Sie verbringen das ganze Jahr in diesem Klassenzimmer und haben dieses Geräusch direkt über ihren Köpfen noch nie wahrgenommen. Eine Minute Achtsamkeit und da ist es. Eine meiner Lieblingsübungen besteht darin, mit den Schülern zusammen, achtsam Rosinen zu essen. Die Kinder sagen, dass in diesem kleinen Bissen, so viel Geschmack steckt, wie in einer ganzen Wassermelone. Manchmal fragen sie: „Ist das Zauberei?“ Und das ist es in der Tat. Es ist ein Zauber, der nicht versucht unseren Verstand mit etwas Mysteriösem aber Unwirklichen zu täuschen, sondern uns erfahren lässt, wie ungeheuer mysteriös unsere Realität bereits ist. Ich sage meinen Schülern oft: „Es ist, als ob wir in der Muggelwelt von Harry Potter leben würden und uns plötzlich – durch unsere Achtsamkeit – bewusst wird, dass wir uns eigentlich in der magischen Welt von Hogwarts befinden.“

      Eine Reihe von Forschungsarbeiten über Achtsamkeit bestätigen, was Praktizierende bereits seit Tausenden von Jahren wissen. Eine regelmäßige Achtsamkeitspraxis verbessert das Immunsystem, die kognitive Entwicklung, die Aufmerksamkeitsfähigkeit und die Emotionsregulation; sie macht uns zufriedener und mitfühlender. Achtsamkeit ist zu einem Begriff geworden, in Kliniken genau wie in den Vorstandsetagen führender Unternehmen, ja sogar bei den Olympischen Spielen, bei denen wir beobachten können, wie die Sportler sich mit einigen ruhigen, achtsamen Atemzügen, für ihren großen Wettkampf bereit machen. Einige andere Beispiele für den Einsatz von Achtsamkeit in unserem Kulturkreis sind z. B. die wöchentliche Kongress-Meditationsgruppe des Kongressabgeordneten Tim Ryan, das „Resource Center for Mindful Spending“ („Kompetenzzentrum für achtsames Geldausgeben“) der Großbank JPMorgan Chase und das Weltwirtschaftsforum in Davos, das vor Kurzem mit dem Thema „Mindful Leadership“ („Achtsames Führen“) eröffnet wurde. Die Zeit für Achtsamkeit ist jetzt.

      Wenn Achtsamkeit bei Erwachsenen so gut funktioniert, um wie viel einfacher müsste es dann sein, junge Menschen zu Beginn ihres Lebens in den Prinzipien der Selbstliebe, der inneren Widerstandskraft und der wertfreien Aufmerksamkeit zu schulen, bevor sie einen Panzer des Selbstschutzes um sich herum aufgebaut haben. Wie würde unsere Welt aussehen, wenn jedes Kind die Möglichkeit hätte, zu lernen, wie es gut für sein Herz, seinen Körper und seinen Geist sorgen kann? Die bisherigen Forschungsergebnisse zu diesem Thema bestätigen unsere Hoffnungen: Achtsamkeit verringert bei Jugendlichen die Impulsivität, verbessert ihre schulischen Leistungen und ihre exekutiven Funktionen und steigert ganz allgemein das Wohlbefinden.

      Vielleicht denken Sie jetzt, Achtsamkeit sei die neue Wunderdroge. Schließlich wird sie ja als Heilmittel für ADHS, chronische Schmerzzustände, Depressionen, ja für das menschliche Leiden selbst angepriesen. Doch obwohl selbst wissenschaftliche Untersuchungen sie wie eine Wunderpille aussehen lassen, so bleibt doch die Schwierigkeit, dass sich Achtsamkeit nicht ganz einfach mit einem Glas Wasser herunterschlucken lässt; es bedarf regelmäßiger und gewissenhafter Übung, um diese Ergebnisse ernten zu können. Achtsamkeit ist auch kein Betäubungsmittel; wir werden mehr fühlen, nicht weniger. Vielleicht beginnen wir mit einer Achtsamkeitspraxis in der Hoffnung, uns damit im Handumdrehen glücklich und zufrieden zu fühlen. Sehr oft jedoch zwingt sie uns zunächst noch tiefer in unser Unbehagen, unsere Sorgen und Ängste hinein. Achtsamkeit fordert uns auf, das Boot unserer Aufmerksamkeit direkt in den Sturm zu lenken. Wenn wir dann den Muskel unseres Widerstands entspannen und uns dem gegenüber öffnen, was wahr, was hier und jetzt ist, dann eröffnet sich eine völlig neue Art des Lebens und Lehrens.

      Wenn wir Achtsamkeit praktizieren, dann geht es nicht darum, etwas nachzubeten, was andere vor uns herausgefunden haben, sondern darum, Bedingungen zu schaffen, unter denen wir ganz bewusst unsere eigenen Erfahrungen in Herz, Körper und Geist beobachten können. Achtsamkeit zu definieren, ist in etwa so, wie einem Kind zu erläutern, was Spaß bedeutet. Es ist unvergleichlich einfacher, mit ihm ein Spiel zu spielen, und ihm dann – wenn es vergnügt herumtanzt – zu sagen: „Das nennt man Spaß haben.“ Anstatt Ihnen also zu erklären, was Achtsamkeit ist, werde ich ihnen einige Fragen stellen.

      Erinnern Sie sich…

      • wie es sich anfühlt, vollkommen in einer Tätigkeit aufzugehen, so dass all Ihre Gedanken in den Hintergrund treten – vielleicht während Sie Sport betreiben, Musik machen oder einer anderen kreativen Tätigkeit nachgehen?

      • an eine gefährliche Situation, in der Ihre Sinne geschärft und Ihre Aufmerksamkeit wie ein Laser fokussiert war?

      • wie der Blick in die Augen eines Babys, Sie völlig sprachlos