„Wir wollen unseren Kindern dabei helfen, integrierter zu werden, damit sie ihr ganzes Gehirn in einer koordinierten Weise nutzen können. Wir wollen z. B. dass sie horizontal integriert sind, damit die Logik der rechten Gehirnhälfte gut mit den Emotionen der linken Gehirnhälfte zusammenarbeiten kann. Wichtig ist auch, dass sie vertikal integriert sind, damit die höheren, weiter entwickelten Teile ihres Gehirns, durch die sie ihr Handeln überdenken können, gut mit den niedereren Teilen zusammenarbeiten, denen es eher um Instinkt, Bauchgefühl und Überleben geht“ (Siegel, D. und Bryson, T., 2013).
Indem wir Achtsamkeit praktizieren, können wir lernen, diese verschiedenen Teile des Gehirns zu integrieren und innere Konflikte zu schlichten. Es gibt ein grundlegendes neurowissenschaftliches Prinzip: „Nervenzellen, die zusammen feuern, verbinden sich.“ Auf Grund neuester Erkenntnisse über neuronale Plastizität – das ist die Fähigkeit der Verbindungen in unserem Gehirn, sich im Laufe unseres Lebens zu verändern und anzupassen – wissen wir jetzt, dass unser Gehirn durch gesunde mentale Gewohnheiten stärkere und gesündere neuronale Verbindungen bilden kann. Achtsamkeit trainiert unser Gehirn darin, so zu reagieren, wie wir es wollen, statt auf eine vorgegebene, reflexartige, vom Reptiliengehirn bestimmte Weise. Besonders hartnäckig sind solche Reaktionen in Situationen, die mit Stress oder Konflikten zu tun haben. Wenn ein Kind zum Beispiel gelernt hat auf Angst mit Gewalt zu reagieren, kann Achtsamkeit ihm dabei helfen, sich seines gewohnheitsmäßigen Verhaltens und der zugrundeliegenden Gefühle bewusst zu werden und schließlich die Reaktion auf eine positive, konstruktive Weise zu verändern.
Studien zeigen, dass langjährige Achtsamkeitspraktizierende tatsächlich einen dickeren präfrontalen Kortex besitzen, das ist die Gehirnregion, die für die exekutiven Funktionen (EF) zuständig ist. Entwicklungsneurowissenschaftler, die die Auswirkungen von Achtsamkeit auf die exekutiven Funktionen untersucht haben, sagen: „Achtsamkeitsbasierte Interventionen, die darauf abzielen, uns unserer Gedanken, Emotionen und Handlungen bewusster zu werden, verbessern nachweislich bestimmte Aspekte exekutiver Funktionen, wie Aufmerksamkeit, kognitive Kontrolle und emotionale Regulation“ (Tang, Y. u. a., 2012). Das heißt, dass Schüler durch Achtsamkeit lernen können, während des Unterrichts besser aufzupassen, ihre Emotionen zu regulieren und größere Sozialkompetenz zu entwickeln. Durch achtsames Atmen, Gehen und Übungen, die das Mitgefühl fördern, können Kinder die neuronalen Verbindungen bilden, die ein gesundes Leben begünstigen.
Obwohl Achtsamkeit in der Schule ein sehr junges Gebiet ist, gibt es eine Vielzahl von Studien über die Auswirkungen von Achtsamkeit im Klassenzimmer, in Jugendstrafeinrichtungen und anderen Jugendzentren. Ein Großteil dieser Forschung steckt noch in den Kinderschuhen, doch die Ergebnisse weisen in die vielversprechende Richtung, die wir alle erhoffen. Positive Eigenschaften, wie emotionale Selbstregulation, Mitgefühl, Aufmerksamkeit und die exekutiven Funktionen verbessern sich, während destruktive Tendenzen, wie Impulsivität, Gewalt und Stress reduziert werden. Es bedarf noch vieler Studien, um herauszufinden, welche Praktiken für welches Alter am wirksamsten sind, doch hier ist eine Auswahl dessen, was wir bereits wissen:
• Ein 24-wöchiges Achtsamkeitstraining mit einer Gruppe von Erst-, Zweit- und Drittklässlern führte zu verbesserter Aufmerksamkeit und einer signifikanten Verbesserung von ADHS-Symptomen (Napoli, M. u. a., 2005).
• Ein in Belgien abgehaltenes Achtsamkeitstraining für Schüler zielte darauf ab Depressionen zu verringern. Die Ergebnisse legen nahe, dass Achtsamkeits-Programme in der Schule dazu beitragen können, Depressionen bei Jugendlichen zu verringern und zu verhindern (Raes, F. u. a., 2013).
• Ein für Jugendliche adaptiertes achtsamkeitsbasiertes Stressreduktionsprogramm führte bei den Teilnehmern nach Eigenangaben zu einer Reduktion von Angst, Depressionen und körperlicher Stresssymptomatik, sowie zu mehr Selbstvertrauen und verbesserter Schlafqualität (Biegel, G. M. u. a., 2009).
• In Jugendstrafeinrichtungen ergab eine Studie eine signifikante Reduktion von Feindseligkeiten und emotionalem Unbehagen bei den Inhaftierten nach einem Achtsamkeitstraining. Diese inhaftierten Jugendlichen konnten nach dem Training ihre zwischenmenschlichen Beziehungen und ihre schulischen Leistungen verbessern und ihren Stress reduzieren (Sibinga, E. u. a., 2011).
• Eine bahnbrechende Studie zeigte, dass „das Achtsamkeitstraining sowohl das Leseverständnis (um etwa 16 %) wie auch die Arbeitsgedächtniskapazität verbesserte, und gleichzeitig das Auftreten störender Gedanken während des Lesetests und der Messung des Arbeitsgedächtnisses verringerte“ (Mrazek, M., 2013).
Diese Ergebnisse erlauben erste Schlüsse darauf, in welchem Ausmaß Achtsamkeit zu einem glücklichen, gesunden und erfolgreichen Leben unserer Schüler beitragen kann. Von einem ergebnisorientierten Standpunkt aus freut es uns natürlich, dass praktizierte Achtsamkeit schulische Leistungen verbessern und Verhaltensauffälligkeiten verringern half. Was mich jedoch noch mehr begeistert, ist, dass Kinder durch Achtsamkeit lernen, sich wohl in ihrer eigenen Haut zu fühlen, sich selbst zu vertrauen und Mitgefühl mit der Welt um sie herum zu haben. Noch mehr als auf bessere schulische Leistungen, hoffe ich auf eine Generation von Schülern, die Mitgefühl mit sich selbst und anderen entwickeln. Wenn die Beziehungen zu unseren Bezugspersonen unsere Entwicklung als Kind ausschlaggebend beeinflussen, dann könnten unsere Kinder ja noch integriertere Persönlichkeiten werden als wir, und deren Kinder wiederum integrierter und wir befänden bereits auf dem Weg zu einer friedlichen, integrierten Gesellschaft.
Die Ursprünge
der Achtsamkeit
Genau wie unser Atem nicht uns gehört, ist auch Achtsamkeit weder dem Christentum, noch dem Buddhismus oder dem Taoismus zuzuschreiben. Wo und wann immer der Menschen gelebt hat, war es unerlässlich für ihn, aufmerksam zu sein; sei es beim Jagen, um Werkzeug oder Kleider herzustellen oder einer intellektuellen Tätigkeit nachzugehen. Mitgefühl brauchten wir immer schon, um zusammen in Harmonie leben zu können und unser Leben zu genießen. Menschen aus allen Kulturkreisen haben mit dieser Weisheit die großen Fragen des Lebens gestellt. Diese allgemein gültigen Praktiken wurden über Jahrtausende hinweg entwickelt – oder, so könnte man sagen, sie haben uns entwickelt.
Im Laufe der Geschichte wurde Meditation von religiösen und kulturellen Traditionen auf der ganzen Welt dazu genutzt, um Authentizität, Güte und Einsicht zu fördern. Viele religiöse Traditionen wenden sich dazu an ihre spezifischen Gottheiten und verwenden Visualisationen, Mantras oder Gebete. Für unseren Zweck werden wir keine Begriffe aus anderen Kulturen oder Religionen verwenden, obwohl solche Praktiken durchaus auch Vorteile bringen können. Die Schönheit der Achtsamkeit für unsere moderne Welt liegt darin, dass wir dazu nichts brauchen als unseren Atem, unseren Körper, unseren Geist und unser Herz.
Jede Kultur und jede Religion hat ihre eigenen Achtsamkeitspraktiken. Wenn Sie sich einer Tradition zugehörig fühlen, dann empfehle ich durchaus, mit diesen Praktiken zu experimentieren. Die Gebete, Meditationen und Andachtsformen, die sich in jeder Tradition finden, können dazu genutzt werden, um Aufmerksamkeit, Mitgefühl und ein Gefühl der Verbundenheit mit allen Dingen zu entwickeln. Die Achtsamkeitspraktiken, die ich in diesem Buch vorstelle, können die Praktiken der Tradition, der sie sich zugehörig fühlen, durchaus unterstützen. Konzentration und ein offenes Herz können für die Gebete eines Christen, die Übungen eines Yogis und die intellektuellen Fragen eines Atheisten förderlich sein.
Ich habe mehr als einmal die Erfahrung gemacht, dass Eltern oder Lehrer Bedenken äußerten, ich und meine Kollegen würden an den Schulen Buddhismus lehren. Jedes Mal, wenn das passierte, habe ich die Eltern oder Lehrer eingeladen, sich selbst ein Bild zu machen und unserem Unterricht beizuwohnen. Nachdem sie dann gesehen hatten, dass wir nichts tun, außer den Schülern beizubringen zu atmen, sich zu entspannen und emotionale Ausgeglichenheit zu finden, gab es keine weiteren Beschwerden mehr. Ja einige dieser Eltern und Lehrkräfte sind nun Verfechter von Achtsamkeit in der Schule geworden. Achtsamkeitsbasierte Lehrpläne und Schulungen haben ihren Platz an katholischen Schulen, jüdischen Schulen, Quaker-Schulen und vielen anderen öffentlichen und privaten schulischen Einrichtungen gefunden.
Trotzdem