Im Laufe der letzten zwanzig Jahre konnten andere Studien bei Kindern einen dramatischen Rückgang der kognitiven und emotionalen Kompetenzen feststellen, die wir für selbstverständlich halten, um später als Erwachsene einen Beitrag zu unserer Gesellschaft leisten zu können.5 Neuere Studien betonen die Bedeutung der Fähigkeit, wirklich zuhören, effektiv kommunizieren, Konflikte lösen, kritisch denken, sich Ziele setzen und im Team arbeiten zu können, und die Rolle, die dem öffentlichen Schulsystem bei der Entwicklung dieser Eigenschaften zukommt.6 All das kann durch eine Achtsamkeitspraxis verbessert werden.
Laut Linda Lantieri,7 einer wegweisenden Pädagogin für Sozial Emotionales Lernen (SEL) und Achtsamkeit, besteht der Mehrwert von Achtsamkeit für das konventionelle SEL vorrangig in den Körpergewahrseinspraktiken, die bekanntlich die Neuroplastizität fördern; das heißt, strukturelle Veränderungen in den eben erwähnten und anderen Gehirnregionen, die in der Lage sind, Lernfähigkeit, Gedächtnis, emotionale Balance und kognitive Aspekte zu verbessern. Achtsamkeitspraktiken bilden eine solide Grundlage für das mehr konzeptuell und kognitiv basierte SEL-Curriculum. Sie erlauben jedem Kind, seinen Muskel der emotionalen Balance regelmäßig zu trainieren, indem sie üben, präsent zu sein und ein nicht wertendes Gewahrsein in relativ ruhigen Momenten zu entwickeln, und dann mit der Zeit zu lernen ein gewisses Maß an Gelassenheit selbst angesichts stressauslösender und bedrohlicher Situationen beizubehalten. Ein regelmäßig trainierter Achtsamkeitsmuskel, besonders wenn dieses Training spielerisch und mit Leichtigkeit ausgeführt wird, macht es wahrscheinlicher, dass die Kinder unter bedrohlichen und sehr emotionalen Umständen ihre SEL-Strategien abrufen und anwenden können.
Meine erste Begegnung mit Achtsamkeit im Klassenzimmer hatte ich in den frühen 90-er Jahren durch Cherry Hamrick, der Lehrerin einer fünften Klasse, an der Welby Elementary School in South Jordan, Utah. Cherry war eine unerschrockene, höchst kreative, frühe Pionierin dieser Bewegung.8 Nachdem sie an einem achtsamkeitsbasierten Stressbewältigungsprogramm (MBSR) am LDS Hospital in Salt Lake City teilgenommen hatte, beschloss sie, Achtsamkeit mit ihrer Klasse zu versuchen. Trotz meiner anfänglichen Skepsis entwickelte sich Cherrys teilweise sehr kreative Einführung von Achtsamkeit in ihrer fünften Klasse zu einem sehr erfolgreichen Experiment, das sich über einige Jahre erstreckte. Ich hatte das Privileg, die Schule zu besuchen und ihre Schüler und einige der Eltern kennenzulernen. Offensichtlich war Achtsamkeit dort sehr willkommen und hatte in diesen Jahren einen positiven Einfluss, nicht nur auf diese Klasse, sondern auf die ganze Schule. Eine Anekdote ist mir lebhaft in Erinnerung geblieben: ein Elternteil beobachtete, wie ein Schüler aus Cherrys fünfter Klasse zu einem seiner Geschwister, das sich darüber beschwerte, dass seine Klassenkameraden es ärgerten, sagte: „Nur weil sein Geist flattert, heißt das nicht, dass Deiner auch flattern muss.“
Nachdem die Wirksamkeit von Achtsamkeit im Leben und der Gesundheit von Patienten mit einer Reihe von chronischen stressbedingten Krankheiten, sowie Depressionen und Ängsten wissenschaftlich mehrfach belegt werden konnte, finden achtsamkeitsbasierte Programme wie MBSR und MBCT (Mindfulness-Based Cognitive Therapy) in zunehmendem Maße auch in der Medizin, dem Gesundheitssystem und bei Psychologen ihre Anwendung. Gleichzeitig halten Achtsamkeit und andere kontemplative Praktiken ihren Einzug bei normalen Studienplänen an Hochschulen und Universitäten.9 Wie wir bereits gesehen haben, bietet Achtsamkeit Schülern und Lehrern von Grund- und weiterführenden Schulen eine wirkungsvolle Antwort auf den wachsenden Stress und die vermehrten Herausforderungen, denen Kinder, Lehrer und Schulen ausgesetzt sind, und die insgesamt dem Lernen eher abträglich sind.10
Achtsamkeit ins Klassenzimmer zu bringen setzt ganz generell ein beträchtliches Maß an Kreativität und Innovation von Seiten des Klassenlehrers voraus.
Es ist nicht im geringsten ein 08/15-Universalkonzept. Noch ist es eine verdeckte Strategie zur Verhaltensmodifikation, obwohl ein Nebeneffekt durchaus eine wesentlich effizientere Lernatmosphäre sein kann. Was Daniel Rechtschaffen hier anbietet, ist ein effektiver, benutzerfreundlicher Zugang für Klassenlehrer, der betont, dass es den einen, richtigen Weg, Achtsamkeit zu unterrichten, nicht gibt und dass es am besten funktioniert, wenn der Lehrer experimentiert und sein eigenes Leben als Versuchslabor heranzieht, um seine Achtsamkeitspraxis zu erkunden und zu vertiefen. Das Buch bietet eine Reihe von kreativen Optionen und Zugangsweisen für Lehrer jeder Klassenstufe, die den Wunsch haben, diesen Ansatz mit Sorgfalt und Spielfreude in ihr Klassenzimmer zu bringen. Es ist eine Fundgrube der Perspektiven und Übungen, die Lehrer und Administratoren über Jahre hinweg bei ihren Versuchen, Achtsamkeit in die verschiedenen Aspekte des Lehrplans – vom Kindergarten bis zur Oberstufe – zu integrieren, Inspiration und Unterstützung bietet.
Im November 2012 ging ich über einen Fußballplatz, den die Mittelschule und die High School in Camp Zama, dem ausgedehnten Hauptsitz der US-Army in Japan, gemeinsam nützen. Aus dem Nichts hörte ich eine Stimme aus dem Lautsprecher, die vollkommen selbstverständlich verkündete: „Die Glocke läutet nun den Beginn einer achtsamen Minute ein.“ Ich traute meinen Ohren nicht. Scheinbar wussten alle Schüler, was das bedeutete – sie erhielten bereits Achtsamkeitsunterricht – und fielen eine Minute lang in ein stilles Gewahrsein. Später erfuhr ich, dass der Direktor der Mittelschule selbst diese Ansage gemacht hatte. All dies geschah, weil ein Schulbeirat, Jason Kuttner, der Meinung war, dass es hilfreich sein könnte, Achtsamkeit in den Unterricht einzubauen. Nun wird es in der gesamten Mittelschule eingesetzt und wurde in Teilen der High School ebenfalls vorgestellt. Das ist ein Beispiel dafür, wie die Intention einer einzigen Person Veränderungen in einer ganzen Schule bewirken kann, genau wie Cherry Hamrick es in ihrer Schule tat und so viele andere Lehrer, deren Geschichten in diesem Buch zu finden sind.
Im Dezember 2013 hielt Chris Ruane, ein Parlamentsmitglied Großbritanniens und langjähriger Lehrer in Wales, eine mitreißende Rede im Parlament, die an den Bildungsminister gerichtet war, der direkt vor ihm saß. In seiner Rede, deren Titel „Achtsamkeit in der Schule“ war, betonte er die Notwendigkeit, Achtsamkeit in Grund- und weiterführende Schulen in England einzuführen und erklärte, warum alle Klassenlehrer die Möglichkeit haben sollten, eine qualifizierte Schulung in Achtsamkeit zu erhalten.11 Er nannte einige Programme als Beispiele, darunter auch das „.b“ Programm von Mindfulness in Schools, einem Projekt der Lehrer Chris Cullen und Richard Burnett. Sie haben einen sehr fantasievollen und äußerst beliebten Zugang entwickelt, um Achtsamkeit in Grundschulen und weiterführenden Schulen in Großbritannien zu unterrichten. Zu ihrer Gruppe gehört auch ein Forschungsprogramm, das mit dem Oxford University Centre for Mindfulness zusammenarbeitet. Es ist nur eines von vielen inspirierenden Achtsamkeitsprogrammen, die Daniel Rechtschaffen vorstellt.
Ob Sie Lehrerin sind oder Erzieher, in der Schuladministration oder der Lehrplanentwicklung arbeiten, das Buch, das Sie in Händen halten, hat das Potential, Ihr Leben, das Leben Ihrer Schüler, das Leben der ganzen Schule sowie das gesamte Bildungssystem nicht nur in Amerika zu verändern. Ich begrüße diese zeitgerechte Veröffentlichung. Möge es eine nützliche und wertvolle Ressource für alle Lehrerinnen und Lehrer sein, denen es ein Anliegen ist, sowohl das innere wie das äußere Lernen zu optimieren und das einzigartige Potential und die Schönheit jedes einzelnen ihrer Schüler zu fördern.
JON KABAT-ZINN
BERKELEY, KALIFORNIEN
31. JANUAR 2014
Belege
1 Mindful Schools hat seine Arbeitsweise mittlerweile verändert und bietet nun Trainingsprogramme für Achtsamkeit für Lehrer von Grund- und weiterführenden Schulen an, statt Spezialisten in die Klassen zu schicken.
2 Siehe zum Beispiel: