Die Klassenlehrerin erzählte mir später, dass viele der Kinder in dieser Klasse ernste Aufmerksamkeitsprobleme hatten. Sie staunte, wie still es oft während der Achtsamkeitsübungen im Raum wurde. Diese Fähigkeit, so stellte sie fest, übertrug sich mit der Zeit auf andere Momente des Tages, die Klasse kam leichter zur Ruhe, da sie schon wussten, wie sich das anfühlte, und das machte es ihr einfacher, den geplanten Lernstoff zu unterrichten.1
Lehrer stehen heute unter starkem Druck, sich immer mehr nach außen zu orientieren und die Erfüllung von Bildungsstandards und die Vorbereitung auf standardisierte Tests in den Vordergrund zu stellen. Das Schwergewicht unseres Bildungssystems liegt in fast erdrückendem Maße auf der Vermittlung von Informationen, natürlich mit dem lobenswerten Ziel, der nächsten Generation ein größeres Wissen und mehr Verständnis mitzugeben und somit gebildete und maximal kreative Arbeitskräfte für unsere zukünftige Welt hervorzubringen. Nur dass dieser Ansatz an sich leider mit starken Mängeln behaftet ist und falschen Voraussetzungen folgt, denn mit Ausnahme einer Minderheit von Schülern, für die er durchaus passend sein mag, lässt er die Mehrzahl der Kinder gestresst, befremdet und unendlich gelangweilt zurück – und sogar dem Lernen immer ablehnender gegenüberstehend. Man könnte sagen, dass die vorherrschende Tendenz in unserem Bildungssystem zu einer Krise der öffentlichen Gesundheit beiträgt, denn die Gesundheit der nächsten Generation hängt maßgeblich von Fähigkeiten und Kompetenzen ab, für die sich die Schule bis vor kurzem überhaupt nicht zuständig fühlte.
Völlig übersehen oder ignoriert wird in dieser Atmosphäre der Bereich der Innerlichkeit – das Innenleben des heranwachsenden Lernenden – und wie es gemeinsam mit dem äußeren Wissen und den Kompetenzen berücksichtigt, genährt und weiterentwickelt werden kann und muss. Das ist unumgänglich notwendig, damit jedes Kind lernt, sich in seiner Haut wohl zu fühlen, seinen eigenen Geist und Körper zu beruhigen, Selbst-Gewahrsein, emotionale Intelligenz, Selbstvertrauen und Resilienz zu entwickeln, um angesichts der unterschiedlichsten Stressfaktoren, des Leistungsdruckes und der Vorstellung, so oder so sein zu sollen, um dazuzugehören, bestehen zu können. Meiner Erfahrung nach fördert die Wertschätzung und Pflege des Innenlebens auch die Kreativität und Vorstellungskraft.
Angesichts dieser ständigen Vernachlässigung des Innenlebens ihrer Schüler wenden sich immer mehr Lehrer der Achtsamkeit zu. Achtsamkeit fördert Qualitäten wie Handlungsbewusstsein, das Gefühl wirklich man selbst und grundsätzlich in Ordnung zu sein, so wie man ist, das Gefühl ganz zu sein und dazuzugehören, sowie bestimmte Kompetenzen, die wichtig sind, um diese „Ganzheit“ über Jahre hinweg beizubehalten und das Lernen zu verbessern. Diese Kompetenzen beinhalten die Fähigkeit, unsere eigenen Gedanken und Emotionen als „Ereignisse“ im Feld des Bewusstseins zu erkennen und das Wissen, wie wir uns von ihnen befreien können, wenn wir uns in ihrem Inhalt und den dazugehörenden Emotionen verstrickt haben. Einfache Achtsamkeitspraktiken bieten uns verlässliche Strategien, um mit den Stürmen und Turbulenzen umzugehen, die unseren Geist bisweilen heimsuchen und mit Trauer, Wut, dem Gefühl nicht dazuzugehören, nicht gut genug zu sein und nicht lernen zu wollen, einhergehen. Unter anderem fördern sie Gelassenheit, Konzentration und Fokus, Impulskontrolle, Empathie und Verständnis anderen gegenüber und verringern Aggressionen.2
Um diese Praktiken zu einem vertrauten und unverzichtbaren Teil des Unterrichts zu machen – wie es so wirkungsvoll in diesem Buch beschrieben wird – gibt man den Kindern praktische Möglichkeiten, sich selbst kennenzulernen und zu erkunden. Dazu gehören nicht nur Gedanken und Emotionen, sondern auch das Bewusstsein für das Universum unserer Körperempfindungen, unter anderem auch unser Atem, und wie diese, meist in Übereinstimmung mit unseren Gedanken und Emotionen, kontinuierlicher Veränderung unterliegen. Im weiteren beeinflussen sie auch das soziale Bewusstsein, die Landschaft unserer Beziehungen und die Fähigkeit, uns darin so zu bewegen, dass anstelle von Trennung, Missachtung und Feindseligkeit, Verbundenheit, Güte und eine Reihe von prosozialen Verhaltensweisen gefördert werden.
Parallel zu dem akademischen Lehrplan brauchen auch unser Innenleben und unser Selbstgewahrsein Schulung und Zuwendung, damit diese Qualitäten verankert und im Laufe unseres Lebens weiterentwickelt und vertieft werden können. Diese Zuwendung beginnt damit, zu erforschen, wie man zur Stille finden kann, wie es sich anfühlt, sich ganz bewusst zu bewegen und wie man maximale Präsenz entwickeln kann, wenn man es möchte oder die Situation es erfordert. Achtsamkeit liegt dem sozial-emotionalen Lernen zugrunde. Es geht darum, weisere Entscheidungen zu treffen und verschiedene Wege zu finden, um mit seinen inneren und äußeren Erfahrungen, die sich von einem Moment zum nächsten entfalten, in Beziehung zu treten. Wie wir sehen werden, ergänzt Achtsamkeit Sozial Emotionales Lernen (SEL) um das Element der Körpergewahrseinsübungen, die den Kindern dabei helfen, ausgeglichener, angemessener und effektiver auf Krisenmomente zu reagieren.
Die Grundlage der Achtsamkeit liegt in unserem Bewusstsein selbst. Achtsamkeit ist nicht etwas, das wir erlangen oder uns aneignen müssen, sondern eher etwas, das wir bereits haben und bloß entdecken müssen, eine Fähigkeit, die angeboren ist, aber zugunsten einer weiteren wunderbaren, menschlichen Fähigkeit, dem Denken, oft vernachlässigt wird. Doch während dem Denken in der Schule reichlich Zeit gewidmet wird, in der Hoffnung, die Schüler zu besseren und kritischeren Denkern zu erziehen, bleiben die anderen, genauso essentiellen Fähigkeiten, die unsere Gedanken und Emotionen regulieren können, überwiegend unbeachtet. Es ist das Gebot unserer Zeit, uns mit diesen inneren Fähigkeiten zu beschäftigen, vertraut zu machen und sie in unseren Alltag zu integrieren, um in unserem Leben mit all seinen Aufs und Abs, allen Drehungen und Wendungen, besser navigieren zu können. Welcher Ort könnte besser dafür geeignet sein, um diese Dimension zu erschließen und zu entwickeln, als die Schule?
Die grundsätzliche Qualität des Gewahrseins besteht darin, dass es alles und jedes fassen kann, das in unserer Erfahrung auftaucht. Es kann die Dinge mit Klarheit und Einsicht wahrnehmen, ohne sie unmittelbar zu werten – und somit den üblichen Impuls aufheben, jeden Aspekt unserer Erfahrung sofort in die Kategorien Mögen oder Nicht-Mögen, Mehr-davon-haben-Wollen oder Weniger-davon-haben-wollen einzuteilen. Unser Bewusstsein verstärkt das Menschliche in uns und unsere Beziehung zum Leben selbst. Für mich ist es das Merkmal, das uns voll und ganz menschlich macht.
Der direkte Weg zum Gewahrsein und seiner Klarheit führt über die systematische Schulung der Aufmerksamkeit. Die Vorteile, diese Schulung und Praxis schon Schulkindern anzubieten, liegen auf der Hand. Solche Fähigkeiten und Praktiken und die potentiellen Einsichten, die daraus erwachsen können, sind, meiner Meinung nach, nicht mehr als Option im menschlichen Repertoire zu sehen. Sie sind, in unserer sich rasant verändernden, immer komplexer werdenden, oft verwirrenden Welt, in der, wie Linda Stone es ausdrückt, die „kontinuierliche, partielle Aufmerksamkeit“ in zunehmendem Maße zum Standard-Modus geworden ist, für Erwachsene wie auch für Kinder unverzichtbar geworden.3 Sie ergänzen den normalen Lehrplan und erleichtern das Unterrichten, wie die Lehrerin dieser ersten Klasse in Oakland bemerkt hat. Man braucht dafür auch nicht viel Zeit, besonders wenn sie in der Hand von erfahrenen und in Achtsamkeit gut geschulten Lehrerinnen und Lehrern liegen.
Wie dieses Buch gekonnt dokumentiert, weiß man mittlerweile, dass Stress sich schädlich auf das in Entwicklung befindliche Gehirn auswirkt.4 Insbesondere nachgewiesen wurde eine nachteilige Wirkung von Stress auf die exekutiven Funktionen des präfrontalen Cortex, die für die Problemlösung, Kreativität und das logische Denken maßgeblich sind – sowie auf den Hippocampus, der eine aktive und wichtige Rolle beim Lernen, dem Gedächtnis und der Emotionsregulation spielt. Stress beeinflusst auch die Amygdala, das Stressreaktionszentrum im Limbischen System, das sich bei dauernder Stressbelastung vergrößert und durch Achtsamkeitstraining kleiner wird. Schon deswegen ist es sinnvoll, sich einfache Achtsamkeitspraktiken anzueignen, von denen wir aus wissenschaftlichen Studien wissen, dass sie ein Gegenmittel zu toxischem Stress darstellen. Viele Kinder