Diese beiden Männer waren seit zwanzig Jahren Arbeitskollegen. Sie hatten eine gemeinsame Sprechstundenhilfe, gemeinsames Pflegepersonal, ein gemeinsames Büro, aber sie kannten einander nicht. Nun hatten sie auch eine gemeinsame Therapeutin, doch mein Berufsethos verbot mir, darüber auch nur die geringste Bemerkung fallen zu lassen. Ich habe beide ermutigt, mit Kollegen über die Therapie zu sprechen, erhielt aber immer nur dieselbe Antwort: „Mit ihm? Um Himmels willen! Er würde nur lachen.“
Wie Krebskranke fühlen sich Ärzte häufig durch die Art ihrer Erfahrungen und darüber hinaus wegen eines berufsbedingten Verhaltenskodex von anderen isoliert. In den von mir geleiteten Fortbildungsveranstaltungen für Ärzte zeigte sich die Einsamkeit dieser Menschen auf viele verschiedene Weisen. In einer der Sitzungen berichtete ein Gastroenterologe von dem unerwarteten Tod eines seiner Patienten. Obwohl schon Jahre vergangen waren, begann jener Arzt im Kreis seiner Kollegen zu weinen und erzählte uns dann, dass er das noch nie getan habe und sich nun wesentlich besser fühle. Die anderen waren sehr bewegt. Einer fragte ihn, warum er damals nicht geweint habe. Der Gastroenterologe antwortete, dass nur ein anderer Arzt seine Gefühle hätte nachvollziehen können. „Doch wer würde schon vor einem Kollegen weinen?“ Wir verstanden alle sofort.
Einsamkeit wurde in diesen Seminaren oft auch auf symbolische Weise deutlich. Als Jon, ein auf die Entfernung von Tumoren spezialisierter Chirurg, gebeten wurde, seine Rolle als Arzt in einem Sandkastenmodell darzustellen, baute er folgende Szene auf: In größtmöglicher Entfernung von sich selbst platzierte er den offenen Rachen eines Hais. Zwischen diesen und sich stellte er eine Gruppe von Tonfiguren in einem Kreis auf. Unter den Figuren befanden sich ein von Hoffnungslosigkeit niedergedrückter Mann, eine Frau, die nur eine Brust besaß und kniend die Arme zum Gebet erhoben hatte, eine andere Frau, die versuchte, das Loch, an dessen Stelle sich ihr Herz hätte befinden sollen, zuzuhalten, sowie ein Mann, der die Arme ausstreckte, als wolle er unsichtbares Unheil abwehren. In die Mitte des Kreises legte Jon ein Stückchen brennenden Weihrauch und erklärte, der Rauch symbolisiere den Heilungsprozess dieser verwundeten Menschen, die nur deshalb genesen könnten, weil sie füreinander da seien.
Gleich neben sich platzierte Jon eine Katchina-Puppe. Katchinas gelten bei den Hopi-Indianern als Verkörperungen eines heilenden Geistes. Interessanterweise hatten in verschiedenen anderen Seminaren mehrere Ärzte diese Puppe ausgewählt, um sich selbst darzustellen. Hunderte von Krebspatienten hatten sie dazu benutzt, ihre eigene Heilung darzustellen. Die Tatsache, dass Ärzte diese Figur wählen, ist besonders aufschlussreich, denn sie hatte Risse und Sprünge und war beschädigt.
Jon legte einen Mundschutz zwischen die Katchina und die kreisförmig aufgestellten Figuren, um die Puppe vor deren Blicken zu verbergen. Hinter der Maske stehend, konnte die Puppe ungehindert lediglich den Hai betrachten. Ich fragte mich, ob Jon damit seine Position als Arzt symbolisieren wollte. Wenn er Krebspatienten behandelte, war sein verwundetes Selbst isoliert und unsichtbar; die Menschen, denen er half, sahen nur seinen Mundschutz. Er richtete seinen Blick allein auf die Krankheit. Die Szene im Sandkasten war ein treffendes Modell dafür.
Als Jon gebeten wurde, sein Modell zu erläutern, bot er folgende Interpretation an: „Da ist eine Bedrohung“, sagte er und deutete auf den Hai. „Diese Figuren stellen verwundete Menschen dar, meine Patienten. In ihrer Mitte befindet sich eine Heilstätte. Und hier stehe ich. Trotz meines Mundschutzes bin ich ebenfalls verwundet. Ich verliere mein linkes Ohr und verstecke mich hinter meinen Fähigkeiten und meinem Wissen. Nur der Hai kann mich sehen; er weiß, dass ich hier bin.“ Als Jon gebeten wurde, die Szene in einen Begriff zu fassen, sagte er: „Allein.“
Nach dieser Übung hatten die Seminarteilnehmer die Möglichkeit, ihr eigenes Modell nach Belieben zu verändern. Jon nahm die zerbrochene Katchina-Puppe hinter dem Mundschutz hervor und legte sie in den Kreis der verwundeten Figuren. Seine Augen röteten sich, aber er weinte nicht.
Die anderen Ärzte, die ihm zugeschaut hatten, waren von Jons Beitrag zum Sandkastenspiel sichtlich betroffen. Danach diskutierten sie noch stundenlang. Viele von ihnen hatten sich einsam gefühlt, waren aber bisher nicht dazu fähig gewesen, darüber zu sprechen.
Das Wehwehchen küssen
Von Kindesbeinen an wird uns gewöhnlich beigebracht, dass die Äußerung von Schmerzempfindungen auf mangelnde Selbstbeherrschung hindeute. Schmerz zu zeigen erscheint uns daher oft wie ein Verstoß gegen die guten Manieren. In anderen Kulturen bleibt man mit seinem Schmerz oder einem Verlusterlebnis nicht so allein wie bei uns. Wir jedoch leiden an unserer Einsamkeit zusätzlich und werden dadurch noch verwundbarer.
Eines Tages erklärte mir eine neue Klientin, die einen Termin verpasst hatte, dass sie in der Zeit, die sie hier bei mir hätte verbringen sollen, in der Notaufnahme gelegen habe. Ich hatte nichts davon gewusst und fragte sie, was geschehen sei. Sie erzählte mir, dass sie zeitweise an Verstopfung leide. Diese sei auf Bestrahlungen zurückzuführen, die nach einer bereits mehrere Jahre zurückliegenden Krebsoperation notwenig geworden waren. Die Schmerzen, die sie vor einer Woche empfunden habe, seien schlimm gewesen und hätten einen ganzen Tag lang angehalten, aber jetzt seien sie vorbei. Sie habe sofort gewusst, dass sie ernst zu nehmen seien, und habe eine kleine Tasche mit Make-up, Nachtzeug und einem bis zur Hälfte gelesenen Krimi gepackt. Dann sei sie allein zu dem vierzig Kilometer weit entfernten Krankenhaus gefahren.
Als gebranntes Kind wusste ich, wie unerträglich solche Schmerzen werden konnten. Ich fragte meine Klientin, wie sie damit habe Auto fahren können. Sie erwiderte, dass sie jeweils so lange gefahren sei, bis der Schmerz sie überwältigt habe. Dann habe sie angehalten und gewartet, bis er wieder vergangen sei. Sie habe sich vorsichtshalber eine Schüssel und ein Handtuch mitgenommen und sich ein- oder zweimal erbrochen. Sie habe sich sehr krank gefühlt, habe es aber, wenn auch im Schneckentempo, bis zum Krankenhaus geschafft. Erstaunt fragte ich sie, warum sie keine Freundin angerufen habe. Sie erklärte mir, es sei Mittagszeit gewesen und alle hätten gearbeitet.
Den nächsten Tag hatte sie allein im Krankenhaus verbracht. Ich fragte sie, warum sie nicht spätestens dann jemanden angerufen habe. „Warum hätte ich jemanden anrufen sollen?“, fragte sie irritiert. „Keiner von meinen Bekannten versteht etwas von Verstopfung.“
„Warum haben Sie dann nicht mich angerufen?“
„Nun, es ist ja auch nicht Ihr Fachgebiet“, erwiderte sie.
„Jessie“, sagte ich, „sogar Kinder suchen instinktiv die Nähe eines anderen Menschen, wenn sie hingefallen sind.“ Ziemlich aufgeregt meinte sie: „Ja, und das habe ich nie verstanden. Es ist doch dumm. Das Wehwehchen zu küssen hilft doch nicht gegen den Schmerz.“ Ich war verblüfft. „Jessie“, sagte ich, „es hilft zwar nicht gegen den Schmerz, aber es hilft gegen die Einsamkeit.“
Viele Menschen gehen mit dem Schmerz um wie Jessie. Wenn Jessie Schmerzen hatte, war das einzig Wertvolle, was ihr ein anderer bieten konnte, fachmännisches Wissen. Sie hatte ihre Mutter verloren, als sie noch ein Kind war. Es war ihr nie in den Sinn gekommen, dass man gegen Einsamkeit etwas tun konnte.
Die Babyküsserin
Als Assistenzärztin in der Pädiatrie war ich eine heimliche Babyküsserin. Das war so eklatant „unprofessionell“, dass ich darauf achtete, nicht erwischt zu werden. Spätabends machte ich unter dem Vorwand, einen Verband oder eine Infusion zu überprüfen, oft allein die Runde auf der Station und gab den Babys einen Gutenachtkuss. Hatten sie ein Lieblingsspielzeug oder ein Schmusetuch, achtete ich darauf, dass es in ihrer Nähe lag, und wenn eines der Kinder weinte, sang ich ihm manchmal sogar eine Weile vor. Über diesen Aspekt meiner Pflegetätigkeit verlor ich nie ein Wort. Ich hatte die Befürchtung, dass mich die anderen Assistenzärzte, vorwiegend Männer, dafür verachten würden.
Eines