Natürlich besteht eine der drängendsten Sorgen von Eltern darin, dass ihre Kinder „zurückbleiben“ könnten. Zwar wüssten viele von uns noch nicht einmal, wie sie die Frage „Hinter was zurückbleiben?“ beantworten sollten, doch hält uns die vage Vorstellung, ein wichtiges Ziel verfehlt zu haben, wenn wir unsere Kinder nicht antreiben, in dieser Sorge gefangen. Oft dreht sich diese Sorge um die kognitive Entwicklung. Werden unsere Kinder intelligent und gebildet genug sein und ausreichend gute Leistungen in der Schule erbringen, um später da anzugelangen, wo sie hinwollen (oder wo wir sie gerne sähen)? Die Debatte darüber, worauf in der Früherziehung besonders Wert gelegt werden sollte, tobt weiter: auf die soziale Entwicklung, die emotionale Intelligenz, die Fantasie und die Kreativität oder die intellektuellen Fähigkeiten? In den Vereinigten Staaten konzentrieren wir uns noch immer hauptsächlich auf Letzteres, und das, obwohl die Länder, die wir auf dem Marktplatz der Erwachsenen als unsere größten Konkurrenten ansehen, in den ersten Schuljahren eher das Spielen und die sozialen Interaktionen als wichtig erachten – und deren Kinder in den höheren Klassen bessere kognitive und sonstige Leistungen erbringen. In diesen Ländern wird die Bedeutung des Spiels für die kognitive, soziale und emotionale Entwicklung von Kindern erkannt. Betrachten Sie die Beziehung zu Ihrem Kind als dessen ersten Spielplatz: ein Platz, an dem es die Welt erforschen kann, sicher und ohne jene Einschränkungen, die durch Angst oder das Ausklammern von bestimmten Gefühlen entstehen.
Die Sorge um die kognitiven Fähigkeiten unserer Kinder ist normal, aber sie ist auch symptomatisch dafür, dass man sich auf den Horizont in der Ferne konzentriert anstatt auf das, was jetzt und hier in diesem Augenblick passiert. Für ganz kleine Kinder ist das Hier und Jetzt das Einzige, was es gibt, und sind sie vollauf damit beschäftigt. Die in diesem Buch besprochenen Themen haben viel mit genau dieser Frage zu tun: Wie können Eltern der emotionalen Sicherheit Priorität einräumen und nach dem Spruch „Jetzt gut, immer gut“7 ihren Kindern das geben, was sie brauchen? Hier ist eine kurze Faustregel: Je mehr sich die Kinder in ihren primären Beziehungen zu Beginn ihres Lebens sicher und geborgen fühlen, desto entspannter und resilienter werden sie sein, wenn sie sich später im Leben verschiedenen Herausforderungen und Gelegenheiten gegenübersehen.
Wie ermöglichen wir unseren Kindern also eine sichere Bindung?
Die gute Nachricht für Eltern ist, dass Elternschaft nicht kompliziert sein muss. Wenn wir uns an unseren (bereits tief in uns angelegten) Fähigkeiten orientieren, können wir die sogenannte Aufgabe des Elternseins viel eher als das Geschenk beziehungsweise Privileg angehen, das es in Wirklichkeit ist. Und wenn wir dem authentischen Wunsch vertrauen, unseren Kindern das zu geben, was für sie am besten ist, sowie der enormen Fähigkeit der Kinder, genau das aus uns hervorzuholen, kann das Elternsein fast schon zum Kinderspiel werden.
Sie wissen vermutlich inzwischen, dass wir hier nicht von einer Art Einfachheit nach dem Motto „Schlafe aus, fühle dich nie überfordert, Elternsein ist so leicht wie eine Sommerbrise“ sprechen. Vielmehr wollen wir sagen, dass die „harte Arbeit“ des Elternseins zu etwas viel Angenehmerem wird, wenn wir als Eltern erst einmal unseren positiven Absichten vertrauen und über ein einfaches visuelles Bild verfügen, das uns ermöglicht, die Bedürfnisse unseres Kindes in eine klare und verständliche Landkarte zu übersetzen.
Erinnern Sie sich an Lei und ihren Vater aus Kapitel 1. Denken Sie an Baby Sophie und seine Mutter. In jenen einfachen, natürlichen Interaktionen können Sie den ursprünglichen Instinkt des Kindes erkennen, nach Fürsorge zu suchen, und den in ähnlicher Art und Weise angeborenen Instinkt der Eltern, Fürsorge zu geben. Obgleich es in den ersten Tagen und Wochen eines Babys nicht so offensichtlich ist, kann man bereits kurze Zeit nach der Geburt sehen, wie das Kind anfängt, die Welt zu erkunden. Oder gehen Sie auf einen beliebigen Spielplatz, und Sie werden dort den gleichen Austausch beobachten können, der zwischen Lei und ihrem Vater stattfand: Lei möchte loslaufen, um ihre Welt und ihre Fähigkeit, mit ihr zu interagieren, zu erkunden; ihr Vater ist da, um ihr das zu ermöglichen. Und das ist Sophie fünf Monate später:
Hannah arbeitet am Esszimmertisch an ihrem Computer, während Sophie sich in ihrem Laufgestell im Raum herumschiebt. Wenn sie gurrt und plappert, schaut Hannah auf und sie lächeln einander an. Dann klingelt das Telefon. Es ist Hannahs wichtigster Kunde, der wissen möchte, wie das Projekt läuft. Während Hannah den Fortschritt in allen Details schildert, wird Sophies Stimme höher; schließlich steigert sich das Plappern zu einem schrillen Kreischen. Das kleine Mädchen weint nicht und ist auch nicht wütend, aber ihre Stimme ist so fordernd, dass Hannah sofort hinüberschaut und ein Lachen unterdrücken muss, als ihr Kunde verwundert fragt: „Was ist das denn, etwa Ihr Hund?“
In diesem zarten Alter ist Sophie bereits sicher genug gebunden, um zu wissen, dass sie sich darauf verlassen kann, dass Hannah da ist, während sie auf eigene Faust den Raum unsicher macht. Diese Unterstützung bei ihren Erkundungen ist so wichtig, dass sie ihr „Sirenenlied“ anstimmt, um die Mutter zurückzurufen, wenn sie bemerkt, dass die Aufmerksamkeit der Mutter sich von ihr abgewendet hat. Wenn die Mutter sich nicht wieder und wieder als zuverlässig herausgestellt hätte, hätte Sophie es möglicherweise gar nicht erst versucht. (Ein Jahr später löst Sophie einen Autoalarm aus, als sie von ihrem Buggy aus ihr Sirenenlied ausprobiert. Hannah glaubt, dass Sophie herausfinden wollte, ob fremde Passanten darauf auch so reagieren wie ihre Eltern. Und natürlich tun sie das.)
Sophie konnte ihre Mutter erkennen, lange bevor sie ihren eigenen Namen kannte oder auch nur irgendetwas von den Worten verstand, mit denen die aufmerksame Familie versuchte, sie zu beruhigen. Möglicherweise hat sie die Bedeutung der Bindung zwischen ihnen begriffen, bevor ihre Mutter dies tat. So sieht eine aufkeimende sichere Bindung aus. Es ist zwar nicht immer nur angenehm (bleiben Sie dran, wenn Sie wissen wollen, wie es mit Sophie weiterging), und doch ist die tiefe Schönheit dieser Bindung in der ganzen Menschheitsgeschichte in Poesie und Kunst zum Ausdruck gebracht worden.
Die gute Nachricht für uns alle ist, dass Bindung einfach geschieht. Die Frage ist nicht, ob ein Kind eine Bindung entwickelt, sondern von welcher Qualität diese Bindung ist. Die Frage ist nicht, ob die Mutter oder der Vater die Bedürfnisse des Kindes erfüllen und sein Unbehagen lindern wollen, sondern ob sie wissen, wie sie das tun können (oder ob sie die Bedürfnisse aus Gründen, die wir später besprechen, nicht sehen können). Wir haben festgestellt, dass, selbst wenn der Bindungsinstinkt der Bezugsperson gestört ist, der des Kindes stark bleiben kann.
Es ist manchmal kaum zu glauben, aber schon mit geringer Hilfe schaffen es viele Eltern, den widrigsten Umständen zu trotzen. Die meisten Eltern in unseren ersten Gruppen zum Kreis der Sicherheit hatten mit einer Vielzahl von aktuellen und vergangenen Problemen zu kämpfen, die Palette reichte von Armut über mangelnde Bildung bis hin zu früheren Missbrauchserlebnissen und erst kürzlich zurückliegender Drogensucht. Daraus ergeben sich sehr schwierige Rahmenbedingungen, die laut Alan Sroufe einen starken Effekt ausüben: „Die Entwicklung des Kindes ist untrennbar mit der Fürsorge verbunden, die es umgibt. Ebenso ist die Fürsorge, die die Bezugspersonen geben können, von der Art des Stresses und der zur Verfügung stehenden Unterstützung im Umfeld abhängig.“ Wenn dieser Stress sehr groß ist, wie zum Beispiel für alleinerziehende jugendliche Mütter und andere Menschen, die sich die größte Mühe geben müssen, um es durch den Tag zu schaffen – und auch für viele „normale“ Eltern heutzutage –, ist es schwer, die Bedürfnisse eines Kindes feinfühlig zu erfüllen oder mit der Kohärenz und dem Verständnis zu reagieren, die notwendig sind.
Über zwanzig Jahre lang haben wir mit ehemalig obdachlosen jugendlichen Eltern gearbeitet, die kaum in der Lage zu sein schienen, die Herausforderungen der Elternschaft zu bewältigen. Viele kamen unter Tränen in unseren Kurs – voller Angst, dass sie den Kreislauf aus Missbrauch und Vernachlässigung fortsetzen würden, den sie selbst als Kinder erlebt hatten. Mithilfe eines elternfreundlichen Ansatzes, der die Entwicklung einer gesunden Bindung anregt, sind viele dieser Teenager sehr erfolgreiche Eltern geworden, die absolut fähig sind, sich selbst und