Was ist mit denjenigen unter uns, die es nicht mit Herausforderungen dieses Ausmaßes zu tun haben? Würde Lei ein langes, gesundes und glückliches Leben führen, wenn ihr Vater die Zeit, die er seiner Tochter widmet, darin investieren würde, sie mit der bestmöglichen Bildung, einem behaglichen Zuhause und den nahrhaftesten Lebensmittel zu versorgen, den direkten Kontakt mit ihr aber einem Kindermädchen und anderen Erwachsene überließe? Das ist durchaus möglich. Auf die Entwicklung eines Kindes haben viele verschiedene Variablen Einfluss. Wenn Lei von frühester Kindheit an ein Kindermädchen, ein Großelternteil oder jemand anderen aus der Familie gehabt hätte, der sich auf eine Art und Weise um sie gekümmert hätte, wie wir es in der Spielplatzszene gesehen haben, hätte sie trotzdem eine sichere Bindung zu einer primären Bezugsperson, die die Grundlage für eine gesunde Entwicklung bildet. Und, wie bereits gesagt, sie hätte noch immer eine Bindung an ihre Eltern, aber wahrscheinlich eine weniger sichere als die an den Menschen, der ihre Betreuung hauptsächlich übernimmt. Die Bedeutung einer innigen und beständigen Verbindung zu einem anderen Menschen ist nicht zu unterschätzen.
Wenn Lei mit keinerlei Bezugspersonen ein Interaktionsmuster von der Art hätte wie das mit ihrem Vater im Park gezeigte, würde sie sich vielleicht zu einem Kind entwickeln, das abseits in einer Ecke sitzt und so tut, als ob es mit sich selbst zufrieden sei, während alle anderen spielen. Sie hätte vielleicht Schwierigkeiten, Freundschaften zu schließen, weil sie nicht wüsste, wie man jemanden tröstet, der sich wehgetan hat, oder nicht verstünde, dass es normal ist, manchmal unterschiedlicher Meinung zu sein. Sie würde möglicherweise das Selbstbild entwickeln, „so besonders zu sein, dass sie sich über nichts ärgert“ oder „zu anders, um dazu zu gehören“. Und hinter alledem wäre sie sehr einsam.
Glücklicherweise passieren Szenen wie die im Park oft ganz von selbst. Und wenn die Dinge sich die meiste Zeit so entfalten, wird sich das Selbst des Kindes gut und gesund entwickeln. Die allermeiste Zeit über müssen Sie nicht Ihr Gehirn anstrengen, um eine sichere Bindung zu Ihrem Baby zu erzeugen. Wir könnten es nicht besser auf den Punkt bringen als Robert Karen:
Sie müssen nicht reich oder schlau oder begabt oder lustig sein; Sie müssen nur da sein, im doppelten Sinne des Wortes. Für Ihr Kind ist alles andere unwichtig, es spielt höchstens insofern eine Rolle, wenn es Ihnen ermöglicht, etwas von sich selbst zu geben. Darüber hinaus müssen Sie keine hervorragende Mutter sein, sondern, um es mit Winnicotts berühmten Worten zu sagen, bloß eine „ausreichend gute“ Mutter.
Eine solide Faustregel für alle Eltern: Gut genug ist – nun ja – gut genug.
Schauen Sie, wie es Sophie und Hannah fünf Jahre später ergeht: Sophie kommt nach der Schule nach Hause gestürmt und ruft, sie wolle sich einen großen Vogel tätowieren lassen: „So einen wie Bellas Babysitter!“
Hannah schnaubt und lacht: „Ja, das klingt ganz toll.“ Sophie bricht in Tränen aus, lässt ihren Rucksack fallen und läuft in ihr Zimmer. Hannah seufzt und hebt den Rucksack auf, aus dem eine (zumindest für eine Fünfjährige) kunstvolle Zeichnung eines Vogels mit großen Flügeln (oder ist es eher ein Drache?) hervorschaut. Sie geht ins Zimmer ihrer Tochter, setzt sich aufs Bett und sagt: „Hey, mein Schatz, das ist ja wirklich schön.“ Stille. „Vielleicht können wir Körperfarben kaufen.“ Noch mehr Stille. „Bellas Babysitter ist richtig cool, was?“ Sophie nickt heftig und fängt an, begeistert die Geschichten wiederzugeben, die die Fünfundzwanzigjährige über den Phoenix erzählt hat, der auf ihrem Arm „lebt“.
Sophie hat die Erfahrung gemacht, dass ihre Mutter versteht, was sie braucht, auch wenn sie selbst es nicht ausdrücken kann. Darum tut es auch so weh, wenn die Mutter es manchmal nicht sofort kapiert. Zum Glück tut sie das aber normalerweise früher oder später und die Welt ist wieder in Ordnung.
Zahlreiche Ansätze und Programme sind mit dem Ziel entwickelt worden, Eltern und Kindern eine nähere, empathischere Beziehung zu ermöglichen, und sie alle haben ihre Stärken. Wir haben den Kreis der Sicherheit mit der spezifischen Absicht entwickelt, die Erkenntnisse aus der jahrzehntelangen Bindungsforschung so verständlich wie möglich zu machen, damit Eltern eine sichere Bindung zu ihren Kindern aufbauen können. Unser Ansatz soll Folgendes bieten:
• Ihnen ermöglichen, die legitimen Bedürfnisse Ihres Kindes zu verstehen
• Ihnen ermöglichen, Ihre Haltung gegenüber diesen Bedürfnissen zu verstehen (und ob manche sich akzeptabler anfühlen als andere)
• Ihnen bewusst machen, warum Sie bestimmte Bedürfnisse begrüßen, mit anderen aber Schwierigkeiten haben
• Ihnen den Teil Ihrer selbst zugänglich machen, der bereit ist, Ihr Unbehagen zu überwinden, um den Bedürfnissen Ihres Kindes Priorität einzuräumen
In den folgenden Kapiteln erfahren Sie mehr darüber, wie man eine sichere Bindung entwickelt und wozu das gut ist. Dabei liegt allem, was wir besprechen, die Einladung an Sie zugrunde, zu vertrauen: sich selbst, Ihrer inneren Weisheit, Ihrer Absicht, Ihr Bestes zu tun, und auch Ihrer Neugier, herauszufinden, was Ihnen dabei möglicherweise im Weg steht. Wir haben immer wieder festgestellt, dass das Vertrauen der Eltern dazu führt, dass auch die Kinder vertrauen können – darauf, dass die Eltern da sind und ihnen in ihren emotionalen Bedürfnissen helfen, die für kleine Kinder so verwirrend sein können, und darauf, dass Sie die Führung übernehmen in all den Momenten Tag für Tag, in denen die Unterstützung eines älteren und weiseren Menschen gefragt ist. Der Kreis der Sicherheit soll dazu dienen, dieses gegenseitige Vertrauen und eine sichere Bindung zu entwickeln, und zwar auf die nachfolgend beschriebenen Arten und Weisen, die den Rahmen für den Rest des Buches bilden.
Von Perfektionismus und Selbstanschuldigungen Abschied nehmen
Stellen Sie sich einen Augenblick lang vor, alle Eltern der Welt hätten diese einfache Tatsache gemeinsam: Wir alle haben genau zwölf Schwächen. Diese Schwächen sind keineswegs bei allen Eltern die gleichen. Zwar haben viele von uns ähnliche Strukturen, die in ähnliche Muster passen, doch zugleich sind wir in unserer „Verkorkstheit“ auch erstaunlich einzigartig.
Stellen Sie sich nun vor, jemand käme daher und sagte Ihnen, dass diese Schwächen kein wirkliches Problem darstellen… es sei denn, Sie haben auch noch „die dreizehnte Schwäche“, die es nahezu unmöglich macht, mit den anderen zwölf umzugehen. Worin besteht nun diese dreizehnte Schwäche? In der Überzeugung, dass Sie die anderen zwölf nicht haben sollten. Und das hat es mit der dreizehnten Schwäche auf sich: Sie beinhaltet stets eine Anschuldigung. Diese Anschuldigung gründet in der Illusion, dass es „eine Lösung“ für unsere Unvollkommenheit oder unsere Probleme als Eltern gibt und dass wir sie längst kennen sollten. Die verdeckte (und heimtückische) Botschaft dabei lautet: „Unvollkommenheiten haben in der Erziehung nichts zu suchen.“ (Viel Glück dabei.)
So viel ist klar: Wir alle haben als Eltern unsere Schwierigkeiten. Jeder von uns. Niemand ist perfekt. Tatsächlich ist jeder Versuch, perfekt zu sein, seinem Wesen nach ein Zeichen von Unvollkommenheit. Wenn wir unsere Schwächen als Eltern bekämpfen, verwandeln sie sich in Stein und sitzen uns mit einem Gewicht im Nacken, das wir kaum tragen können. Dann verfallen wir entweder in Scham und Anschuldigungen und schimpfen fortwährend mit uns selbst, oder wir tun so, als ob wir keine Fehler machten, und finden unweigerlich jemand anderen, den wir beschuldigen können (unsere Kinder, unsere Partner, unsere eigene Kindheit). Wenn wir unsere unvermeidlichen Schwächen respektieren und den Fehlern, die wir als Eltern machen, mit Liebenswürdigkeit, Akzeptanz und Verständnis begegnen können, verändert sich etwas. Für uns und auch unsere Kinder entstehen neue Möglichkeiten und freudige Überraschungen.
Anschuldigungen haben noch nie jemandem dabei geholfen, eine bessere Mutter oder ein besserer Vater zu werden. Wir können uns selbst mit mehr Freundlichkeit begegnen, wenn wir verstehen, dass Elternsein eine außerordentlich herausfordernde Aufgabe ist, dass wir alle Fehler machen und dass das, was wirklich zählt, unsere Absicht ist, das zu tun, was für unsere Kinder am besten ist. Wie wir immer wieder sagen: Kinder sind ausgesprochen gut darin, zwischen den Zeilen zu lesen. Sie spüren es, wenn wir ängstlich und selbstkritisch sind. Und sie spüren