1 Vielen Dank an Jude Cassidy für diese Erkenntnis.
2 Ein faszinierendes Gebiet psychologischer Forschung mit einem furchtbar unverständlichen Namen: Es handelt sich um eine komplexe, aber erhellende Theorie darüber, wie wir unser Selbstgefühl in Bezug auf andere („Objekte“) entwickeln und wie wir die Bilder von uns selbst und von anderen in unsere späteren Beziehungen hineintragen.
3 Danke an Judy Cassidy.
4 Im amerikanischen Original „to experience being experienced“, A.d.Ü.
5 Dieses Zitat wurde paraphrasiert, um geschlechtsspezifische Sprache zu vermeiden.
Sicherheit:
Mit der Unvollkommenheit Freundschaft schließen
Das kleine Mädchen ist erst sechs Wochen alt. Es ist zwei Uhr früh und sie schreit. Mal wieder. In den letzten sechs Wochen hat Ihre Mutter pro Nacht nicht mehr als zwei Stunden Schlaf bekommen. Als sie am Nachmittag zur Drogerie um die Ecke ging, um noch ein Paket Windeln zu kaufen, hatte sie das Gefühl, dass sie gleich auf dem Bürgersteig zusammenklappen würde und alle anderen dort draußen einfach über sie hinwegsteigen und weitergehen würden. Das wäre in Ordnung gewesen, vielleicht hätte sie dann wenigstens ein bisschen schlafen können. Jetzt versucht ihre Familie zu helfen. Ihr Mann und ihre Schwiegermutter wechseln sich im Wohnzimmer bei dem Versuch ab, Sophie zu beruhigen. Sophies Schreien hört in Anwesenheit anderer tatsächlich auf, allerdings immer nur für kurze Zeit. Hannah wirft sich hin und her und starrt an die Decke. Es nutzt nichts. Sie kann einfach nicht schlafen, wenn ihre Tochter in Not ist.
Sie wirft sich einen Bademantel über, geht in das abgedunkelte Wohnzimmer und signalisiert ihrer Schwiegermutter, ihr das Baby zu geben. Sobald Sophie die Arme ihrer Mutter um sich spürt, beruhigt sie sich. Hannah beginnt, auf einem ausgetretenen Pfad im Raum langsam Kreise zu drehen.
Die Tatsache, dass die Berührung ihrer Mutter die neugeborene Sophie sofort beruhigte, war überraschend für ihren Vater, ihre Großmutter (die ganz allein fünf Kinder großgezogen hat) und am allermeisten für Sophies Mutter Hannah. „Davon hatte mir niemand etwas gesagt!“, rief sie Jahre später aus. In dieser Nacht jedoch folgte ihrer Erleichterung darüber, dass sie das Unbehagen ihres Babys durch ihre bloße Anwesenheit lindern konnte, schon bald ein Anflug von Angst und nicht gerade wenig Unmut.
Diese Art von Macht über das Wohl ihres Kindes zu haben erlegte ihr eine schreckliche Verantwortung auf, oder? Wenn sie Sophies Not lindern konnte, während andere dazu nicht in der Lage waren, was, wenn sie dann nicht jede Minute da wäre? Was, wenn sie einen Fehler machte?
Hannah bekam einen Geschmack von der Unvollkommenheit des Elternseins. Wenn Sie bereits Mutter oder Vater sind, haben Sie vermutlich schon einmal die gleichen widersprüchlichen Reaktionen erlebt: Erleichterung und sogar eine wenig Ehrfurcht davor, dass Ihre bloße Anwesenheit Ihr Kind beruhigen kann (wo haben Sie denn diese Superkraft her?), kombiniert mit einem leichten Widerstand und vor allem mit Angst. Wie sollen Sie dieser wichtigen Aufgabe gerecht werden? Wie um alles in der Welt können Sie gut genug, weise genug, geduldig genug und energiegeladen genug sein, um die Mutter oder der Vater zu sein, die beziehungsweise den dieses wunderbare Kind verdient? Und falls Sie gerade Ihr erstes Kind erwarten, haben Sie sicherlich die gleichen Ängste in Bezug auf Ihre Fähigkeit, die bestmöglichen Eltern zu sein.
Aufgrund dieser nur allzu häufigen Zweifel, Sorgen und Vorurteile darüber, was man zum Elternsein braucht, müssen wir über Bindung und Bedeutung von Sicherheit sprechen. Der Druck auf Eltern – sowohl der äußere als auch der innere –, in der Elternschaft Vollkommenheit zu erreichen (oder zumindest eindeutige Fehler zu vermeiden), sitzt in unseren Herzen und unseren Gedanken wie ein wohlmeinender, aber erdrückender Elefant im Raum. Wir wissen (und uns wird gesagt), dass Elternsein die natürlichste Sache der Welt ist. Darum sollte es auch ganz einfach sein, nicht wahr? Genau zu wissen, was für unsere Kinder am besten ist, sollte Teil unserer genetischen Programmierung sein, stimmt’s? Wir sollten jeden Augenblick genießen, oder etwa nicht? Natürlich wissen wir, dass es nicht ganz so einfach oder unabdingbar ist; und mit anderen frischgebackenen Eltern, erfahreneren Müttern und Vätern und unseren eigenen Eltern oder Großeltern können wir darüber Scherze machen. Doch tief in unserem Inneren erwarten wir von uns selbst als Mutter oder Vater das Allerbeste – weil die in uns angelegten positiven Absichten für unsere Kinder uns sagen, dass diese Rolle einfach so wichtig ist.
Das Herz dieses Buches macht eine einfache Beobachtung aus, die wir in den Jahrzehnten unserer Arbeit mit Eltern immer wieder machen konnten: Alle Eltern wünschen sich das Beste für ihr Kind, und das hat uns zu der Überzeugung geführt, dass es in allen Eltern angelegt ist, ihren Kindern Liebe und Sicherheit zu geben. Selbst wenn dies nicht immer der Fall zu sein scheint – zum Beispiel bei Eltern, die ihre Kinder auf äußerst problematische Arten und Weisen behandeln –, haben wir noch nie eine Mutter oder einen Vater getroffen, der oder die morgens beim Aufwachen darüber grübelt, wie man die Kinder möglichst schlecht erziehen kann.
Und doch machen sich viele von uns Sorgen, dass wir uns als nicht besonders gute (oder sogar schlechte) Eltern herausstellen. Warum?
Wir wissen, dass auch wir nur Menschen sind und in einer unvollkommenen Welt leben. Dennoch fordert uns unser Instinkt, gute Eltern zu sein, dazu auf, beim Aufziehen ihrer Kinder alles zu geben. Zudem stellt die Gesellschaft sehr hohe Ansprüche an uns. Diese zwei Kräfte spielen zusammen und drängen uns dazu, nach Perfektion zu streben. Wir fühlen uns schlecht, wenn wir nicht alles in unserer Macht Stehende tun, um großartige Eltern zu sein, und so geben wir dem Drang nach und messen uns daran, wie genau wir uns an die Erziehungsphilosophie A oder den Elternratgeber B halten. Wir fangen an, gutes Aufwachsen als ein Ziel zu betrachten, als eine Leistung oder ein Produkt (Das perfekte Kind? Das niemals einsame Kind? Das immer glückliche Kind? Das nie wirklich traurige Kind?), anstatt als einen Prozess, der sich von selbst entfaltet (wenn wir ihn nur lassen würden). Wir interpretieren „Fehler“ als Rückschläge anstatt als Lernchancen für unsere Kinder und uns selbst, die die Bindungssicherheit stärken und gute Beziehungen ermöglichen.
Man kann es gar nicht oft genug sagen: Perfektion vorzuleben und anzustreben ist einer gesunden Entwicklung nicht zuträglich. Wenn wir uns selbst unter Druck setzen, immer alles richtig zu machen oder dafür zur sorgen, dass unsere Kinder nie den gleichen Schmerz erleben werden, den wir selbst in unserer Kindheit oder Jugend erlebt haben, erzeugt das in uns eine Angst, die unsere Kinder zwangsläufig spüren. Wenn wir uns zu viel Mühe geben, steht das dem Bedürfnis unsere Kinder entgegen, dass wir Vertrauen in unsere Beziehungen haben, was eine essenzielle Grundlage für Sicherheit im gesamten weiteren Leben ist. Lassen Sie uns also den Elefanten aus dem Raum ins Freie führen. In diesem Kapitel wollen wir Licht auf die verschiedenen heimtückischen Arten und Weisen werfen, wie der Druck, stets „perfekt“, „unfehlbar“ oder „immer ansprechbar“ zu sein, eine sichere Bindung gefährden kann. In unserer Arbeit mit Eltern aus verschiedensten Kulturen, jeden Alters und aus allen möglichen Bevölkerungsgruppen haben wir immer wieder festgestellt, dass das Freilegen dieser falschen Erwartungen und des Umgangs mit Kindern, zu denen sie uns verleiten, vielen Menschen hilft, sich in der Begleitung ihrer Kinder zu entspannen.
Wenn Sie sich im Kontakt mit Ihrem Kind entspannen können, strahlen Sie ein ruhiges, feinfühliges Vertrauen in sich als Eltern aus, das wiederum in Ihrem Kindes das Vertrauen entstehen lässt, dass Sie für es da sind und dass es auf seinem Lebensweg weiteren Menschen begegnen wird, denen es ebenso vertrauen kann. Genau das ist es, worum es beim Kreis der Sicherheit geht. Wir haben ihn entworfen, um den Glauben der Eltern an sich selbst und in ihre Beziehung zu ihrem Kind zu stärken. Auf den nächsten Seiten zeigen wir Ihnen, auf welche Art und Weise