Wunder inbegriffen. Albrecht Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albrecht Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573590
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Aussehens und Auftretens „Panzerpaul“ genannt – fährt wieder einmal eine Attacke gegen Werner. „Wigger, Sie nutzen den sozialistischen Staat nur aus. Sie wollen eine hohe Bildung, sind aber nicht bereit, die Prinzipien unseres Staates und die Lehre des Marxismus-Leninismus anzuerkennen. Unser Staat kommt Ihnen mit so vielen Vorteilen entgegen und Sie halten es nicht für nötig, sich aktiv für die Ziele unseres sozialistischen Staates einzusetzen. Ich sage es Ihnen ganz deutlich: Ich werde dafür sorgen, dass Sie bald von der Schule fliegen!“

      Armin, seinem Banknachbarn, der sich öfters mit Werner solidarisiert, droht Panzerpaul gleich mit an: „Und ich warne Sie, holen Sie nicht die Kastanien für diesen Staatsfeind aus dem Feuer! Dann können Sie nämlich auch gehen. Mit solchen Elementen wie Ihnen werden wir ganz schnell fertig. Wir haben die Macht und entscheiden, wer in diesem Land die neue bestimmende Generation sein wird.“

      Armin ist auch Christ, aber er hat sich eine andere Überlebensstrategie ausgesucht: nicht auffallen, alles mitmachen und im Inneren darüber lachen. „Keiner kann mir ins Herz sehen und was ich da über die aufgeblasenen Bonzen denke, das ist meine Sache. Ich habe deswegen keine Schuldgefühle oder Skrupel – die wollen ja betrogen werden! Es sind doch alles auch nur Lügner und Blender. Die sind so verachtungswürdig, dass man sie nur belügen kann.“ Man merkt, dass er sie nicht nur verachtet, sondern geradezu hasst. Umso skurriler ist es für Werner, wenn Armin wieder einmal ein Bekenntnis zum Sozialismus hinlegt, dass sich die Balken biegen.

      Der Hass gegen das System liegt bei Armin aber noch tiefer. Sein Vater war Direktor eines großen Milchkombinats. Als der sich weigerte, in die Partei einzutreten, wurde er als Direktor entlassen und auf eine Milchannahmestelle im Landkreis geschickt. Eine hochintellektuelle Familie, die sich aber auf den Sozialismus ihren eigenen Reim macht. Werner schmerzt Armins zwiespältiges Auftreten, aber er will seinen Freund nicht ständig kritisieren. Umso mehr kämpft er für die Wahrheit und muss dafür viel einstecken.

      Seine Mutter merkt natürlich, wenn er wieder gedemütigt und angespannt aus der Schule kommt. „Junge, hast du heute wieder für die Wahrheit eingestanden? Der Weg des Lammes ist der schmale Weg, aber er führt ans Ziel. Junge, sorg dafür, dass du erkennbar bist. Wenn die anderen von Anfang an wissen, wer du bist, wirst du viele Entscheidungen nicht mehr zu treffen brauchen. Dann ist klar, wo du stehst. Bleibe erkennbar, so wird dich der Herr erkennen, wenn er zum Weltgericht kommt.“ Die Mutter hat nie ein theologisches Buch gelesen, aber die Botschaft der Bibel kennt sie besser als mancher Prediger.

      In der EOS-Zeit geht die Freundschaft mit Ernst in die Brüche. Ernst lernt Schiffsmaschinenbau und hat Kumpels gefunden, die nächtliche Saufgelage veranstalten und sich damit brüsten, ihre Mädchen gegenseitig auszutauschen. Werner versucht, den Kontakt nicht abreißen zu lassen, aber Ernst hat kein Interesse mehr an dem Klugscheißer, wie er Werner bezeichnet.

      So wird Armin für Werner in der Oberschulzeit zum treuen Freund. Sie treffen sich abends und spazieren oft die halbe Nacht durch die Stadt und die Vororte von Wismar. Hier können sie ungestört über alles quatschen, was sie bewegt. Über die belastende Schulsituation, aber auch über Glauben und Bekenntnis. Dabei kommen sie zwar nicht auf einen gemeinsamen Nenner, aber sie können sich in ihrer Unterschiedlichkeit einfach stehen lassen oder ergänzen. Die abendlichen Spaziergänge sind nötig, weil sich die Jungen nicht bei Werner zu Hause treffen können. Armin wohnt die Woche über im Internat, wo ein ungezwungenes oder gar politisches Gespräch erst recht nicht möglich ist. Die beiden lieben ihren Gedankenaustausch in der freien Natur.

      Ab und zu darf Werner am Wochenende Armin nach Hause begleiten. Die Besuche sind immer ein besonderer Höhepunkt für ihn.Armins Vater nimmt sich Zeit für die Jungen,fragt nach Erfolgen und Problemen der vergangenen Woche und hört wirklich zu. Er geht auf die Sorgen von Armin und Werner ein und redet mit ihnen wie ein Freund. Werner merkt, dass er hier ernst genommen wird, und er spürt schmerzlich, was ihm zu Hause fehlt. Er hat es schon immer geahnt, dass ein Vater noch etwas völlig anderes sein kann als das, was er in seiner Familie erfährt.

      Später muss Werner sogar verkraften, dass sein Vater Informant der Stasi gewesen ist. Er bekam Geld, um in der Kneipe gezielt Männer zum Bier einzuladen, um sie auszuhorchen. Diese Nachricht trifft Werner wie ein Schlag, erklärt aber nachträglich einiges.

      Zur EOS gehört in diesen Jahren, dass die Schüler neben der Schule zusätzlich einen Facharbeiterabschluss machen müssen. (Das hat sich später wieder geändert.) Allerdings kann man sich nicht für einen Beruf melden, der einen besonders interessiert – nein, man wird eingeteilt. Werner muss aufs Land und wird Facharbeiter für Rinderzucht. Nach vier Wochen Oberschule kommt eine Woche Ausbildung. Meistens besteht die aus zwei Tagen Berufsschule mit einem völlig anderen Lernstoff und drei Tagen Praxis in der kollektiven Landwirtschaft, der LPG.

      Werner ist die Landwirtschaft nicht fremd, weil seine Mutter hin und wieder als Hilfskraft beim Bauern gearbeitet hat. Werner war schon als kleiner Junge oft mit auf dem Bauernhof. Auch wenn er seine Großmutter auf dem Lande besuchte, verliebte er sich regelrecht in die kleinen Küken, Gänse und Schafe. Nun soll er den ganz andersartigen Beruf eines Rinderzüchters erlernen. Werner gibt sich große Mühe, will auch hier mit guten Leistungen zeigen, dass er nicht kontra ist. Außerdem kann er bei der Gelegenheit den Traktorführerschein machen und damit auch ein Motorrad fahren. Doch halt: „Führerschein“ darf man in der DDR nicht sagen, weil „Führer“ ein nationalsozialistisches Wort gewesen ist … Darum nennt man das Dokument hier „Fahrerlaubnis“.

      Wenn Praxistage sind, muss Werner bereits um vier Uhr aufstehen, denn die erste Arbeit ist das Melken. Im Frühjahr und Sommer sind die Kühe auf der Weide und in der Morgenkälte sind die Euter der Tiere praktische Handwärmer. Meistens wird aber schon mit Melkmaschinen gearbeitet. Werners Gewissenhaftigkeit kommt bei der LPG ins Wanken. Da Häuser, Maschinen und Tiere kein Privateigentum sind, fühlt sich letztlich keiner richtig verantwortlich. Die Gebäude verfallen, Maschinen werden heruntergewirtschaftet und die fehlende Liebe zu den Tieren quittieren diese mit weniger Leistung, Krankheiten und Bockigkeit. Eine der Kühe, für die er verantwortlich ist, wird bald kalben. Wenn es nicht heute Abend noch geschieht, dann in der Nacht. Werner will wissen, wer die Nachtwache für das Tier übernimmt. Er hört nur Ausflüchte und Beschwichtigungen. Als er am nächsten Morgen auf die Weide kommt, liegt die Kuh im Gras, das Kälbchen hängt ihr halb aus dem Körper und ist bereits gestorben. Die Anweisung seines Vorarbeiters: „Zieh’s raus und verscharre es unter dem Misthaufen. Muss ja keiner erfahren, dass wir ein Kalb weniger haben. Mal sehen, ob es die Kuh hier übersteht.“ Diese Gleichgültigkeit den Tieren gegenüber ist Werner unheimlich. Wie hätte sich wohl Albert Schweitzer in der Situation verhalten? Aber natürlich kann er als Lehrling in dieser organisierten Verantwortungslosigkeit nichts ausrichten.

      Im Vergleich zu früheren Jahren ist das Jahr 1967 bisher ziemlich ruhig und emotionslos verlaufen. Ist das die Ruhe vor einem neuen politischen Sturm? Für heute ist in der großen Pause ein Fahnenappell angeordnet. Die Klassen stellen sich in einem großen Quadrat auf. Genau an den mit Kreide vorgezeichneten Linien stehen die Schüler in vier Reihen hintereinander und blicken gelangweilt zum Podest mit den Fahnen. Hier haben die Schul- und die FDJ-Leitung Aufstellung genommen.

      Nach einer kurzen allgemeinen Begrüßung und dem Absingen der „Internationalen“ hält der Direktor die obligatorische Ansprache: Wie immer werden die Schüler mit blumigen Worten auf die Loyalität gegenüber dem Arbeiter- und Bauernstaat eingeschworen. Große, markige Sprüche, die bereits jeder auswendig kennt. Man ermahnt sie zur Dankbarkeit gegenüber dem Privileg, an einer Oberschule des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden studieren zu dürfen. Dann folgen einige organisatorische Ansagen.

      Werner ist mit seinen Gedanken bereits ganz woanders, da bekommt er einen Rippenstoß von seinem Nachbarn, der ihm bedeutet, dass er gerade aufgerufen worden sei, nach vorn zu kommen. Als Werner mit hochrotem Kopf in das Zentrum des Appellhofes geht, hört er ungläubig den stellvertretenden Direktor Dreyer seinen Namen am Mikrofon nennen. Plötzlich ist Werner hellwach. Der stellvertretende Direktor berichtet vor der versammelten Lehrer- und Schülerschaft, Werner habe in zahllosen Freizeitstunden die Karten für den Erdkundeunterricht und das gesamte Lehrmaterial repariert und katalogisiert. Das gesellschaftliche Engagement sei beispielhaft und zu belobigen. Er sei ein Vorbild für hervorragende