Wunder inbegriffen. Albrecht Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albrecht Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573590
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werden nicht kommentiert. Ist es die Angst vor der Macht des Staates? Befürchten die Leiter, dass sie – wie seinerzeit Prediger Rassmussen – verhaftet werden könnten? Dieser wurde 1948 abgeholt und ist nie wieder aufgetaucht.

      Wie auch immer, die Gemeinschaft bedeutet Werner viel. Sie prägt nicht nur seinen Glauben – hier erlebt er so etwas wie eine Ersatzfamilie. Nicht nur mit Johannes, dem Prediger, auch mit vielen älteren Christen kann er über persönlichste Dinge reden. Johannes organisiert jedes Jahr eine Reise mit der Jugendgruppe. Mal geht es ins Erzgebirge, mal nach Thüringen, ins Riesengebirge oder in die ČSSR. Durch diese Reisen weitet sich Werners Horizont in einer Weise, die ihm seine Eltern nie hätten bieten können. Wenn von Landeskirchlicher Gemeinschaft gesprochen wird, dann ist das seine Gruppe. Auf die lässt er nichts kommen.

      Doch nach einer Gemeinschaftsstunde trifft es ihn wie ein Hammer. Als sie gerade ihre Jacken anziehen, poltert die Tochter des Predigers los: „Werner, ich kann deine frommen Reden nicht mehr hören. Wir wissen es doch, dass du für die Stasi hier bist, nur um uns auszuspionieren. Du bist doch nur deshalb auf die EOS gekommen, weil du für die Stasi unter uns Christen herumschnüffelst.“ Alle sind wie erstarrt, dann herrscht peinliches Schweigen.

      Werner kann nur stammeln: „Aber wieso, woher hast du diese Lüge?“ Doch die umstehenden Leute drehen sich weg und gehen wortlos nach Hause. Werner steht in der Garderobe und muss sich an einem Kleiderhaken festhalten. Alles um ihn dreht sich. Wie können die so etwas vermuten? Hat er etwas gesagt, was missverständlich war? Will ihn jemand vernichten? Ist da vielleicht Neid im Spiel, weil er die EOS besuchen darf?

      Noch am selben Abend geht er zu Johannes. Aber diesmal gibt es keinen herzlichen Empfang. „Was willst du?“

      „Deine Tochter hat behauptet, ich wäre Zuträger für die Stasi. Wie kommt sie darauf?“

      „Werner, du weißt genau, dass man nicht über die Stasi sprechen kann. Es tut mir leid, wir können nicht darüber sprechen, ohne die ganze Gemeinschaft zu gefährden.“

      „Aber ich bin nicht bei der Stasi und habe auch nichts mit denen zu tun!“

      „Werner, das musst du mit deinem Gott abmachen – und nun gute Nacht, es ist schon spät.“

      Werner kann es nicht glauben, dass ihn „seine Gemeinschaft“ so abserviert. Er geht in den folgenden Tagen noch zu zwei Ältesten vom Gemeinderat, aber auch dort stößt er auf Misstrauen und Ablehnung. Jeder, der mit der Stasi Kontakt hat, ist eine Gefahr für die Gemeinde. Das Gegenteil lässt sich nicht beweisen – auch auf diese Weise übt die Stasi ihre zerstörerische Macht aus. Später stellt sich heraus, dass eine treue Mitarbeiterin im Vorstand der Gemeinschaft IM (Informeller Mitarbeiter) der Stasi gewesen ist. Ihr wird der Verdacht gegen Werner geholfen haben, in der Deckung zu bleiben. Vielleicht hat sie die Verdächtigung sogar selbst angestoßen.

      Für Werner ist dieses Erlebnis eine bittere Erfahrung. Er hat etwas ganz Wertvolles verloren. Seine Mutter steht plötzlich in einer schweren Zerreißprobe. Die Gemeinschaft ist ihr ganzer Halt in ihrem schweren Leben. Dass ihr Sohn jetzt nicht mehr dort verankert ist, trifft sie schwer.

      Werner engagiert sich daraufhin in der Jugendarbeit der örtlichen Kirchengemeinde. Sie haben im Neubaugebiet Wendorf, welches neben dem russischen Truppenübungsplatz entstanden ist, keine Kirche mit Turm und Glocken. Ihre Kirche ist ein ehemaliger Zirkuswagen, der im Hinterhof einer Gastwirtschaft steht. In dieser schlichten Hütte wird Gottesdienst gefeiert. Hier trifft sich die Jugend und für Kinder findet die Christenlehre, ein kirchlich verantworteter Religionsunterricht, statt. Viele Stunden hat Werner investiert, um den Wagen neu zu streichen, zu reparieren und wohnlich zu gestalten.

      Später kann die Gemeinde ein Gelände im Neubaugebiet erwerben und ein Gemeindehaus bauen. Natürlich gibt es auch hier keinen Turm und keine Glocken; selbst für ein schlichtes Kreuz an der Giebelwand muss bis nach Berlin gestritten werden. Beim Bau dieses Gemeindezentrums ist Werner wieder aktiv beteiligt.

      Die unbekannte Akte

      Jeder DDR-Bürger hat eine Personalakte. Sie wird in der Schulzeit angelegt, dann weitergereicht an den Ausbildungsort und geht schließlich an den jeweiligen Betrieb, beziehungsweise in die Personalabteilung, die von der Stasi kontrolliert wird. Normalerweise bekommt niemand Einsicht in seine Akte, in diesem Jahr gibt es jedoch eine Neuigkeit, die alle Schüler der elften Klasse überrascht: Jeder bekommt die Beurteilung des aktuellen Schuljahrs zu sehen und soll sie gegenzeichnen. Diese Beurteilung ist deshalb besonders wichtig, weil man sich damit für das Studium bewirbt. Dem Antrag auf einen Studienplatz liegt neben dem Zeugnis diese Beurteilung bei – welche indirekt die Empfehlung der Schule zum Studium ist.

      Die Beurteilungen werden in der letzten FDJ-Versammlung ausgeteilt und müssen unterschrieben werden. Eigentlich sind alle Schüler Mitglied der FDJ, sonst hätten sie überhaupt keinen Platz auf den EOS bekommen. Nur Werner und eine weitere Mitschülerin stellen eine ungewöhnliche Ausnahme dar: Als Einzige von über fünfhundert Schülern sind sie nicht in der FDJ.

      Da Werner an jener FDJ-Versammlung nicht teilgenommen hat, bekommt er seine Beurteilung erst in der letzten Stunde vor den Ferien zusammen mit dem Zeugnis überreicht. Die „Empfehlung zum Studium“ ist niederschmetternd: „Werner ist ein sehr ehrgeiziger, seinen persönlichen Zielen gegenüber pflichtbewusster und hilfreicher Schüler. Seine gut entwickelte Fähigkeit im Denken nutzt er gerade in politischen Fragen noch nicht kontinuierlich genug aus. Sein Urteil gegenüber unserer Gesellschaftsordnung ist daher nicht positiv genug. Er wurde nicht Mitglied der FDJ und beteiligte sich trotzdem öfters an deren Veranstaltungen. Aufgrund seiner Leistungen ist zu erwarten, dass Werner sein Abitur mit „Gut“ abschließt. Versetzt nach Klasse 12.“

      So weit die üblichen Kommentare auf dem Zeugnis. Dann legt Herr Sauermann, der Klassenlehrer, etwas zögerlich ein drei Seiten langes Schreiben vor, die eigentliche Beurteilung. Darin steht etwas von fehlender gesellschaftlicher Arbeit, von bewusstem Ignorieren außerschulischer Veranstaltungen, von fehlendem Klassenstandpunkt, keiner eindeutigen Haltung zur Friedenspolitik unseres Staates usw. Auch die Leistungen im entscheidenden Fach Staatsbürgerkunde seien nicht ausreichend. Im Grunde eine wortreiche Umschreibung, an diesen Schüler solle kein Studienplatz vergeudet werden.

      Werner ist empört. „Das unterschreibe ich nicht! Es entspricht nicht der Wahrheit und nicht meinen Leistungen. Ich will Arzt werden und da werde ich ein Abitur mit der Note ‚sehr gut‘ brauchen. Das werde ich auch schaffen. Wichtig für einen Arzt ist nicht die gesellschaftliche Einstellung, sondern dass man die Menschen liebt und fachlich gut ist. An meinen Leistungen ist nichts auszusetzen. Außerdem habe ich mich an vielen außerschulischen Dingen beteiligt und mein guter Wille ist an vielen Aktionen im Unterricht und an der Schule zu erkennen.“

      Werner unterschreibt nicht. Weil dadurch das Dokument nicht vollständig ist, bleibt Herr Sauermann etwas ratlos zurück.

      Der letzte Schultag der elften Klasse endet mit dem obligatorischen Appell. Der Direktor zieht Bilanz, lobt die Lehrerschaft und den Sozialismus und tadelt gewisse Nachlässigkeiten unter den Schülern, die sich eingeschlichen haben. Vor allem ärgert es ihn, dass einige FDJ-Mitglieder zu solchen besonderen Festtagen nicht in der ehrenvollen Uniform der FDJ, also in blauer Bluse und schwarzer Hose oder schwarzem Rock, erschienen sind. Seine Stimme wird schneidend: „Wenn wir uns im nächsten Schuljahr hier wiedersehen, werde ich keinen Klub der karierten Hemden mehr dulden. Die FDJ-Organisation hat ein eindeutiges Statut, in dem die Kleiderordnung vorgegeben ist. Wer sich nicht daran hält, wird dies in seiner Beurteilung bitter zu spüren bekommen. Wir sind auf dem Weg, die Auszeichnung als vorbildliche sozialistische Oberschule zu bekommen, und da will ich hier keine Blümchenwiese und keine Klamotten des Klassenfeindes sehen …“

      Werner kennt das Problem mit der Kleidung. Wenn besondere Festtage zu feiern sind, zieht er als Zeichen der Festlichkeit ein weißes Hemd an – aber blau wird er niemals erscheinen. Die Rede geht noch eine Weile weiter und der Direktor droht auch den Lehrern an, im kommenden Schuljahr werde von allen, von Schülern und Lehrern, ein erhöhtes Engagement für das Klassenbewusstsein gefordert. Werner kann kaum noch zuhören, so belastend wird ihm seine Situation deutlich. Hinzu kommt, dass sein Klassenlehrer Sauermann ihn aufgefordert