Wunder inbegriffen. Albrecht Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albrecht Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573590
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noch auf den Truppenübungsplatz geraten!

      Endlich, gegen ein Uhr und ziemlich müde, erkennen sie vor dem bleigrauen Himmel die Umrisse der Kirche. Rolf steuert darauf zu. Von drinnen hört man ein polterndes und klapperndes Geräusch. Alles ist total dunkel und der Turm zeigt wie ein mahnender Zeigefinger in den Himmel.

      „Wer hat Mut und geht mal in die Kirche? Wir müssen herausfinden, was dort vor sich geht“, sagt Rolf. Keiner hat den Mut, allein hineinzugehen, aber es will auch niemand ein Angsthase sein. So gehen sie gemeinsam. Rolf geht voran und die Jungen dicht gedrängt hinterher.

      Drinnen in der Kirche sehen sie auf der Empore ein schimmerndes grünliches Licht hin und her hüpfen. Mal ist es weg, dann poltert es wieder gewaltig, auf einmal ist es wieder zu sehen und man hört einen hohen Pfeifton. Am Lagerfeuer kriegen sie nicht genug von den Gruselgeschichten, aber was hier vor sich geht, ist doch zu viel.

      „Rolf, mach Licht!“, rufen einige, denen die Angst schwer zu schaffen macht. Dietrich fährt die Angst so in die Därme, dass er fluchtartig die Kirche verlassen muss und hinter einem Grabstein eine deutliche Markierung hinterlässt … Rolf bläst zum Rückzug und ziemlich angstgebeutelt kriechen die Jungs in ihre Schlafsäcke.

      Am Morgen klärt sich alles auf. Das Gespenst stellt sich höchstpersönlich vor. Ein Mitarbeiter der Gemeinde zeigt den Jungs einen Weidenstock, der am Ende schon total vermodert ist. Dieses Ende strahlt in der Dunkelheit ein leicht fluoreszierendes Licht aus. Dann zeigt er seine dicken Filzstiefel, mit denen er auf der Empore herumgetrampelt ist. Die Erleichterung ist groß und Rolf muss am Nachmittag am Strand ein Eis ausgeben, weil er ihnen so einen Schrecken eingejagt hat. Gleich nach dem Frühstück geht die Suche nach solchen Weidenstöcken los, denn viele Jungs haben ja zu Hause noch Geschwister …

      Die Bibelarbeiten und Abendgestaltungen finden bei schönem Wetter im „Lindendom“ statt. Auf dem Weg zum Friedhof gibt es ein Rondell, welches von riesigen Linden umgeben ist. Blickt man zum Himmel, sieht man etwas wie das Kreuzgewölbe eines mächtigen Domes. Hier hocken die Jungs auf niedrigen Bänken und Steinen. Da wird gesungen und am Abend ein Lagerfeuer entzündet. Sie entdecken, dass die biblischen Geschichten nicht langweilig sind, sondern etwas mit ihnen zu tun haben. Hier fallen Entscheidungen für den Glauben. Einige beginnen in abendlichen Gebetsrunden sogar laut zu beten. Auch Werner bekommt Sehnsucht, ganz zu diesem Gott zu gehören. Nicht nur weil es Spaß macht, mit anderen Christen im gleichen Alter zusammen zu sein, sondern weil er entdeckt, dass man diesem Gott vertrauen kann.

      Doch am nächsten Tag findet die Rüstzeit ein jähes Ende. Ein Auto aus Wismar fährt vor. Polizei und Vertreter der Partei steigen aus und verbieten die Weiterführung dieser antisozialistischen, konterrevolutionären und unerlaubten Versammlung. Alle Argumente, dies sei eine rein kirchliche Veranstaltung, sogar der Bischof habe den Auftrag dazu gegeben, und hier geschehe rein gar nichts Antisozialistisches oder Konterrevolutionäres, helfen nichts. Rolf ist machtlos, er muss den Rücktransport der Teilnehmer organisieren. Den Jungs, die zwar innerlich rebellieren, aber vor der geballten Staatsmacht Angst haben, bleibt nichts anderes übrig, als den Rucksack zu packen und traurig zu den Fahrrädern zu gehen, um den Heimweg anzutreten.

      Einem der Teilnehmer, er heißt Wolfgang, kommen vor Zorn und Enttäuschung die Tränen. Ihm ist das peinlich, aber er kann sie nicht unterdrücken. Werner nimmt ihn zur Seite, legt ihm den Arm um die Schulter und meint: „Wolfgang, ich finde es toll, dass du gestern Abend am Lagerfeuer den Mut hattest, vor der Gruppe zu erzählen, dass sich dein Glaube hier in den Tagen verändert hat. Du hast gesagt, dass du jetzt viel konkreter an Gott glaubst und als Rolf zur Gebetsgemeinschaft aufgerufen hat, hast du sogar vor allen laut gebetet. Du, Wolfgang, ich glaube, auch diese Polizeiaktion hat etwas mit Gott zu tun. Vielleicht will er unseren Glauben prüfen? Wir können trotzdem glauben, dass Gott stärker ist als die Polizei.“

      Auch Rolf sagt, ehe sie auf die Räder steigen: „Die Christen in der Urgemeinde wurden verfolgt und viele haben sogar ihr Bekenntnis zu Jesus mit dem Leben bezahlt. Gerade in unseren Bibelarbeiten haben wir davon gesprochen, welche Schwierigkeiten die erste Gemeinde hatte und wie sie immer wieder von Gott bewahrt wurde. Wir erleben hier auch etwas von der Macht des Bösen, der nicht will, dass junge Menschen zum Glauben kommen. Jungs, wir sind auf der richtigen Fährte und unser Herr geht mit. Ihm gehört alle Gewalt im Himmel und auf Erden.“

      Schweigsam radeln sie zurück nach Wismar. Wolfgang kann aber nicht nach Hause, weil seine Eltern gerade Urlaub am Plattensee in Ungarn machen. Werner würde ihn gern mit nach Hause nehmen, aber das wäre seinem Vater nicht recht. So lässt es der Rüstzeitleiter Rolf darauf ankommen und bringt Wolfgang zur Polizei. Die sollen ruhig sehen, was für Probleme durch die unsinnige Maßnahme entstanden sind.

      Nach einigen Telefonaten wird Wolfgang in ein Polizeiauto verfrachtet und in ein Ferienlager der „Jungen Pioniere“ nach Boltenhagen gefahren. Dort erlebt er das genaue Gegenteil der Rüstzeitatmosphäre: am Morgen Appell statt Bibelarbeit, militärische Übungen statt Sport, alles jeweils in der Gruppe, ohne individuelle Freiheiten. Auch die Leiterinnen und Leiter sind aus einem anderen Holz, das merkt Wolfgang schon mit seinen dreizehn Jahren. Heimlich liest er jeden Tag ein Kapitel in dem kleinen Neuen Testament, das Rolf ihm geschenkt hat. Die Texte aus der Apostelgeschichte passen gut zu seiner Situation, sie machen ihm Mut.

      Eigentlich hatte sich Werner schon lange auf seine Konfirmation im nächsten Jahr gefreut. Aber irgendwie geht es ihm in den letzten Wochen nicht gut. Eine Mischung aus Enttäuschung und Schwermut hat sich wie ein Nebel auf ihn gelegt. Die Freude am Leben und am Glauben scheint wie eingefroren.

      Von den Jugendlichen, die seit vorigem Jahr am Konfirmandenunterricht teilgenommen haben, sind in letzter Zeit immer mehr abgesprungen. Warum nur? Sie waren doch so eine eingeschworene Gruppe! Man hat sich gegenseitig Mut gemacht, wenn in der Schule über die Christen gespottet wurde, man hat zusammengehalten, wenn ein Schüler vom Lehrer wegen seines Glaubens gedemütigt wurde. Doch jetzt bleiben viele weg, sogar Jungen, die an der Rüstzeit in Hohenkirchen teilgenommen haben. Werner fragt einige nach den Gründen, bekommt jedoch keine Antwort. Nur Ausflüchte und – Schweigen.

      Auch Wolfgang bleibt weg. Das macht ihm besonders zu schaffen, weil Wolfgang in Hohenkirchen so einen wunderbaren Start zu einem verbindlichen Glauben hatte. Er besucht ihn zu Hause, aber da ist Wolfgang erst recht nervös. „Ich kann dir das nicht erklären. Hier nicht!“, sagt er und schaut ängstlich zur Küche hinüber, wo seine Mutter mit Geschirr klappert.

      Werner lässt sich nicht so schnell abweisen, es geht ja auch um seine Stimmungslage. „Du kannst doch nicht die Gemeinschaft mit Gott und seiner Gemeinde aufgeben. Erinnerst du dich nicht mehr an unsere Zeit in Hohenkirchen?“

      „Doch, Werner. Aber es ist anders, glaub mir. Ich will dir das später erzählen, hier geht das nicht.“

      Tagelang geht Wolfgang ihm aus dem Weg, bis Werner ihn vor der Kaufhalle abpasst. Aber was er hier erfährt, bedrückt ihn noch mehr. Wolfgang erzählt: „Es ist wegen meiner Eltern. Sie haben mir verboten, in den Konfirmandenunterricht zu gehen. Vater haben sie im Betrieb die Hölle heißgemacht. Er soll sein Kind gefälligst im Sinn des Sozialismus erziehen und von den schädlichen Einflüssen der Kirche fernhalten. Wenn ich weiter in den „Konfi“ gehe, verliert er seinen Posten als Abteilungsleiter. Und dann könnte er weder den Betriebswagen nutzen noch nach Ungarn in den Urlaub fahren. Auch Mutter haben sie im Krankenhaus in die Parteileitung bestellt. Sie ist zwar nur Nachtschwester, aber man hat ihr gedroht, dass sie keine Aufstiegschancen hätte, wenn ich weiter in die Kirche gehe. Jetzt redet sie ständig auf mich ein, ich könne ja persönlich denken, was ich will, aber ich solle mich anpassen. Sie will nicht, dass ich ihr später mal Vorwürfe mache, sie hätte mich nicht gewarnt …“

      Werner hat sich alles schweigend angehört und ihm ist richtig schlecht. Ist das wirklich so, dass Kinder über ihre Eltern erpresst werden? Ist Gott der Verlierer in dieser Zeit? Werner kennt doch auch die Ängste in der Schule. Sein Vater spottet ebenfalls über den christlichen Glauben – aber ihn hat das eher im Glauben stark gemacht. „Wolfgang, erinnerst du dich noch an die Bibelarbeiten auf der Rüstzeit? Haben wir dort nicht über Mut und das Bekenntnis zum Glauben gesprochen?“

      „Was soll ich denn machen? Vater hat es glattweg verboten,