Wunder inbegriffen. Albrecht Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albrecht Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573590
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dein Glaube?“, fragt Werner nach.

      „Ich glaube immer noch, das kannst du mir glauben! Ich lese auch noch im Neuen Testament – manchmal jedenfalls.“ Werner ist erschüttert und zornig. Nicht auf Wolfgang, sondern auf diesen Staat, der so mit Eltern und Kindern umgeht.

      Bei zwei weiteren Konfirmanden – Sabine und Heinz-Peter – sind Werners Erfahrungen noch niederschmetternder. Sie reden offen davon, dass sie moderne und fortschrittliche Menschen sein wollen und dass man mit den Wölfen heulen muss, sonst würde man selbst aufgefressen. Hauptsache, sie kämen im Leben weiter, könnten sich später mal viel leisten und hätten ihre Ruhe vor der Politik. Sie würden sich auch um Gott keinen Kopf mehr machen, vielleicht sei das ja alles bloß Einbildung. Wissenschaftlich sei die Sache mit Gott sowieso nicht haltbar.

      Da ist es wieder – dieses Gefühl, ganz allein zu sein. Werner meint, niemandem vertrauen zu können. Solche Klassenkameraden machen ihm Angst. Menschen, die keinen Standpunkt haben, die ihre Fahne nach dem Wind hängen, die alles vermeiden, um ja nicht aufzufallen: Hat es das in Deutschland nicht schon einmal gegeben?

      Freundschaften zerbrechen, das schmerzt ihn besonders. Das Reden auf dem Schulhof wird zum einstudierten Rollenspiel. Keiner sagt mehr das, was er wirklich denkt und fühlt. Im Unterricht, bei den auswendig gelernten Politphrasen sowieso, aber eben auch im alltäglichen Miteinander. Man muss sich gut überlegen, wem man einen Witz erzählt. Denn man weiß nie genau, mit wem man es zu tun hat. Wenn doch einmal eine Diskussion über Weltanschauungsfragen oder aktuelle Ereignisse aufkommt, wird sie wie von einer unsichtbaren Hand der Angst plötzlich abgewürgt. Verlegen weicht jeder auf Allgemeinplätze aus oder albert plötzlich herum, um einen Ausgang aus der Situation zu finden. Keiner will sich angreifbar machen.

      Da reift in Werner der Gedanke: Aber ich will erkennbar bleiben. Ich will mir ins Gesicht sehen können. Ich will den anderen keine Rolle vorspielen. Ich will Gott auch in der Öffentlichkeit und im Gegenwind die Treue halten. Und so kniet er sich am Abend vor der Konfirmation vor sein Bett und bittet Jesus Christus, der Kapitän und Lotse seines Lebens zu werden. Es ist ihm wichtig, dies laut auszusprechen und sein Leben mit Gott festzumachen.

      Am nächsten Tag sind es nur vier Konfirmanden, die in der riesigen Backsteinkirche St. Nikolai vor den Altar treten. Für diese vier ist es mehr als eine Familienfeier. Ausstaffiert mit Anzug oder Kleid, Schuhen, Armbanduhr und Wäsche wurden sie durch Pakete aus einer Patengemeinde im Westen. Weil sich die vier so in der Gemeinde engagieren, hat der Pastor ihnen die Patenschaften organisiert.

      Die Konfirmanden wissen genau: Mit diesem Gottesdienst zeigen sie, dass sie sich dem Druck des Staates nicht beugen. Sie wollen ihr Leben von einer höheren Regie bestimmen lassen. Geschickt geht der Pfarrer in seiner Predigt auf die kleine Gruppe ein. Er fordert sie auf, die große Kirche wahrzunehmen, in der Generationen von Wismaranern – Kaufleute, Seefahrer und einfache Fischer, Vertreter der Hanse genauso wie einfache Tagelöhner – das Wort Gottes hörten und ihm die Ehre gaben. Auch wenn es aktuell Anfeindungen gegen die Christen gibt, die Gemeinde hatte immer wieder schwierige Zeiten durchzustehen. Die Treuen – auch wenn es nur wenige sind – haben Gottes Versprechen, dass er sie nicht vergisst.

      Werner ist gespannt auf seinen Konfirmationsspruch. Sie haben zwar im Konfi-Unterricht über die Bedeutung mancher Sprüche gesprochen, aber es wurde nicht verraten, wer welchen Bibelvers zugesprochen bekommt. Und dann hört er ihn: „Nun seid ihr nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen“ (Epheser 2,19).

      Nicht mehr fremd, zu Hause bei Gott! Werner ist glücklich. Alle Zweifel und die bitteren Stunden der Enttäuschung und Einsamkeit sind vergessen. Bürger in Gottes Reich, ein starkes Bild! Ihm bedeutet diese „Gottesbürgerstunde“ mehr als die Staatsbürgerkunde, die ihm am Dienstag wieder in der Schule begegnen wird. Hausgenosse Gottes – er staunt über diese prompte Antwort nach seiner Lebensübergabe am gestrigen Abend. Er weiß genau: Da hat er die richtige Entscheidung getroffen!

      Die primitiven Argumente gegen die Christen lassen nicht nach. So kommt es, dass Werner sich mit dem Verhältnis von Glaube und Wissenschaft beschäftigt. Wo gibt es Übereinstimmungen, wo sind Unterschiede? Mit den Antworten möchte er auch seinen Mitschülern eine Denkhilfe geben. Es geht ihm nicht darum, dem Lehrer eins auszuwischen, sondern um die Wahrheit. Nicht um Phrasen, sondern um verstehbare Antworten. Natürlich erlebt er auch so manche Niederlage, wenn er den Argumenten der Lehrer nichts mehr entgegensetzen kann und sich mit einem roten Kopf geschlagen geben muss.

      Aber dann macht Werner eine Erfahrung, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Der 20. Jahrestag der Befreiung vom Faschismus steht an. Irgendwie müssen dieser Tag und die ruhmreiche befreiende Sowjetarmee gefeiert werden. An der Schule gibt es an der Mauer neben dem Eingang eine große Freifläche. An dieser Wand soll nun ein Plakat entstehen – als Dank für diesen großen Tag. Da Werner gut im Zeichnen ist, wird er gefragt, ob er die Wand gestalten könnte. Für ihn ist das eine Chance, in der Schule einmal positiv aufzufallen. Außerdem hat er Lust auf so ein Großprojekt. Er macht einen Entwurf, der als gut und aussagekräftig angenommen wird.

      Die folgenden Tage ist Werner damit beschäftigt, in der Turnhalle auf einem fünf Mal fünf Meter großen Stück Stoff ein heroisches Bild zu malen. Es zeigt unten die Trümmer des Krieges. Sowjetische Soldaten stürmen über die Trümmer und streben der Zukunft entgegen. Nach oben wird das Bild immer heller und sonniger: Neue Fabriken mit rauchenden Schornsteinen, Neubausiedlung, breite Straßen mit Autos, fröhliche Menschen – und im Hintergrund sogar ein Hafen. Na klar, wir sind in Wismar! Über allem wölbt sich ein ungetrübter Himmel als Zeichen der Hoffnung auf ein neues, friedliches Land.

      Als das Plakat hängt, ist Werner mächtig stolz. Auch der Direktor ist begeistert und fragt Werner, ob er nicht Lust hätte, am Kulturprogramm zur Feier des 8. Mai mitzuwirken. Von seinem Erfolg beflügelt, macht er gern mit. Er spielt einen russischen Soldaten, der in russischer Sprache eine Verlautbarung vorträgt, die zum Tag der Befreiung damals in Berlin übergeben wurde. Sie preist den ruhmreichen Sieg der Sowjetarmee und den Sieg des Proletariats über alle Feinde des Sozialismus. Werner soll das Dokument in Originalsprache vortragen, ein Mädchen aus seiner Klasse übersetzt alles ins Deutsche.

      Werner bekommt für die Veranstaltung eine russische Uniform ausgeliehen, in der er sich sehr gut gefällt. Nach der Generalprobe geht er sogar verkleidet nach Hause, die Zivilkleidung unter dem Arm. Die Leute auf der Straße stutzen, einige schütteln den Kopf: Was ist denn mit dem Wigger los? Werner stört das nicht. Sein Stolz hat ihn unkritisch gemacht.

      Erst seine Mutter holt ihn aus seinem Traum heraus. „Werner“, sagt sie, „weißt du nicht, dass die Frauen vor den Soldaten Angst haben? Keine geht allein durch einsame Wege, immer wieder kommt es zu Überfällen. Der Hass auf die Besatzungsmacht ist groß. Wir haben kaum etwas zu essen und die Offiziere in den besten Wohnblocks mit vier Zimmern leben in Saus und Braus. Ich möchte nicht, dass du mit der Uniform draußen herumläufst.“

      Damit ist Werner die Stimmung verdorben. Und plötzlich schämt er sich, am nächsten Tag in dieser khakifarbenen Kluft auf der Bühne zu stehen. Jetzt muss er da durch, aber sein Entschluss steht fest: Nie wieder lasse ich mich vor einen Karren spannen, den ich nicht für gut halte.

      Hürdenlauf

      Der Schulstoff bereitet Werner keine Probleme. Er ist gut, ja der Beste in der Klasse und möchte gern auf die Erweiterte Oberschule gehen, wie das Gymnasium in der DDR heißt. Als der Vater von diesem Wunsch erfährt, erntet Werner nur Spott und Verachtung. „Wie kannst du nur so blöd sein, dir so etwas auszudenken? Du zeigst immer wieder, dass du gegen die da oben bist und nun willst du von denen gefördert werden … Wann wirst du endlich vernünftig? Lerne lieber einen anständigen Beruf! Bilde dir ja nicht ein, dass du weitere vier Jahre deine Füße unter meinen Tisch stecken und dich von meinem Geld satt fressen kannst.“ Der angedrohte Rausschmiss ist nicht ganz ernst gemeint, denn in der DDR kann man wegen der Wohnungsnot niemanden einfach aus dem Haus jagen. Aber die Ansage ist klar: Der Vater hat etwas gegen Werners Pläne, die EOS zu besuchen.

      Als er – wie immer, wenn er im Zorn ist – in die nahe Gastwirtschaft entschwindet, nimmt die Mutter Werner zur Seite und sagt: „Wir kriegen das