Wunder inbegriffen. Albrecht Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albrecht Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573590
Скачать книгу
bei der Werner einen Fehler begehen könnte. Als die sympathische alte Lehrerin an Krebs stirbt, wird das den Schülern am nächsten Tag in der ersten Stunde mitgeteilt. Werner trifft die Nachricht bis ins Innerste.

      Bei ihrer Beerdigung sind viele Schüler und fast alle Lehrer in die Friedhofskapelle gekommen. Werner sucht sich einen Platz auf der Empore und als der Sarg hinausgetragen wird, spielt er auf seinem Flügelhorn einen Choral. Natürlich wird das von den Lehrern registriert, aber Werner ist dieser Dienst an Oma Rosi wichtig. Er muss es einfach tun.

      Es gibt ein weiteres Lehrerehepaar, dem Werner viel zu verdanken hat. Ursula Rothe unterrichtet Latein und Deutsch, Christian Rothe, den alle Chrischan nennen, gibt Mathematik und ist in den ersten beiden Jahren sein Klassenlehrer. Bevor Werner in die elfte Klasse kommt, wird er jedoch aus dem Schuldienst entlassen, weil er nicht bereit ist, seine Mitarbeit im Kirchgemeinderat zu beenden. Damit ist er ein Opfer der zweiten Säuberungswelle an der Schule in der Lehrerschaft. Werner begegnet ihm später noch einmal und bedankt sich für sein faires und wohlwollendes Auftreten gegenüber den Schülern.

      Er sagt: „Werner, Sie haben immer wieder viel riskiert, um sich ein klares Profil zu bewahren. Man weiß nie, wie lange die Kraft reicht, um einen geraden Weg durchzuhalten. Aber es jedem recht zu machen, um nicht anzuecken, kostet sehr viel mehr Kraft. Irgendwann fängt man an, Kompromisse zu machen, die man eigentlich gar nicht will. Auf einmal steckt man in einem Mechanismus, den man nicht mehr selbst steuern kann … Ich habe gemerkt, wie einsam man wird, wenn die anderen anfangen, auf Distanz zu gehen. Ja, es kostet einen hohen Preis, erkennbar und berechenbar zu bleiben. Ich wünsche Ihnen ganz viel Kraft für Ihren weiteren Weg und dass Sie doch noch das Abitur machen können. Denken Sie daran, Gott kann Ihnen die Kraft dazu schenken.“

      In den folgenden Jahren hat der Lehrer in Rostock für einen Verlag an der Erstellung eines mecklenburgischen Wörterbuchs gearbeitet und konnte nur zum Wochenende zur Familie nach Hause kommen. So hat auch er einen hohen Preis gezahlt.

      Seine Frau darf an der Schule bleiben. Ursula Rothe hat Werner in der Friedhofskapelle beobachtet und mitbekommen, dass ihm diese alte Lehrerin viel bedeutet haben muss. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein.

      „Werner“, sagt sie, „ich merke doch, dass es dir nicht gut geht. Du hast nicht nur eine alte Freundin verloren, sondern auch mächtige Schwierigkeiten in der Schule. Im Kollegium wird immer wieder angesprochen, dass du eigentlich nicht an die EOS gehörst.“ Sie nimmt ihn in den Arm. „Werner, du kannst jederzeit zu uns kommen. Ich will dir gern helfen, soweit es in meiner Macht steht.“ Dann setzt sie sich ans Klavier und beginnt zu spielen, Klassik quer durch alle berühmten Komponisten. Werner empfindet dabei eine Geborgenheit, die ihm bisher völlig fremd war.

      Darüber hinaus bietet die Lehrerin ihm praktische Hilfe an. Sie will vermeiden, dass Werner sich selbst eine Falle stellt. Als er einmal einen Aufsatz über „Walther von der Vogelweide und seine Bedeutung als Vorkämpfer für das Proletariat“ geschrieben hat, bittet Frau Rothe ihn dringend um einen Besuch.

      Nach einer Tasse Tee sagt sie zu ihm: „Werner, den Aufsatz kann ich nur in den Ofen stecken. Wenn der so ins Kollegium geht, bist du erledigt. Du schreibst zwar viel über die Minnegesänge der damaligen Zeit, aber du darfst sie nicht verklären. Dass Walter von der Vogelweide sich immer wieder auf Gott bezieht, stimmt zwar, aber das hat bei dem Thema nichts verloren. Wichtig sind die Andeutungen in seinen Liedern, in denen er die geknechteten Menschen unter den herrschenden Verhältnissen beklagt. Du musst seine Kritik an Fürsten und dem Papst herausarbeiten, das habt ihr doch im Unterricht ausführlich besprochen. Du liebst doch die Musik, also beschreibe, wie sie im Klassenkampf eine wichtige Rolle spielen kann. Lass deutlich werden, dass du den Unterrichtsstoff verstanden hast. Komm, hier hast du Papier. Setz dich an den Tisch und schreib den Aufsatz neu, ich helfe dir dabei.“

      Eine neue Kampagne wird in der Schule gestartet: „Freiheit für Jupp Angenfort!“ Jupp ist ein Funktionär der Kommunistischen Partei in Düsseldorf, der wegen Hochverrats ins Gefängnis kam. Bei einem Gefangenentransport konnte er fliehen und sich in die DDR absetzen. Bei einem Besuch in der Bundesrepublik ist er erneut verhaftet worden. Nun fordert die DDR seine Freiheit. Die Schüler sollen das mit einer Unterschriftenkampagne unterstützen. Der Aufruf, der dem Zentralkomitee der Partei zugeleitet werden soll, hängt am Schwarzen Brett – der Wandzeitung – und alle Schüler sollen darauf unterschreiben. „Wir fordern Freiheit für Jupp Angenfort“ ist da groß zu lesen neben weiteren politischen Erklärungen. Viele Namen stehen bereits unter dem Aufruf. Alle haben dem Druck nachgegeben und unterschrieben, nur Werners Name fehlt, weil er bei dieser unsinnigen Aktion nicht mitmachen will. Einige Tage wird er bearbeitet und auch Mitschüler versuchen, ihn davon zu überzeugen, dass man sich nicht gegen alles stemmen kann. Wenn er sich für etwas Besseres hält, soll er doch die Schule verlassen …

      Für Werner wird die Angelegenheit zu einer Art Glaubensfrage. „Herr, was soll ich tun?“ Es ist nicht die Angst, von der Schule zu fliegen, sondern die Angst, vor Gott zu versagen. Er will einfach nicht den Menschen mehr gehorchen als seinem Herrn. Werner weiß aber, dass er am nächsten Tag dafür zur Rechenschaft gezogen wird. Es wird wieder endlose Diskussionen geben und irgendwann kommt es zu der angedrohten Konsequenz – nämlich zum Rausschmiss aus der EOS.

      Ist es Gottes Eingebung oder nur Frechheit? Der Gedanke ist genauso verwegen wie gefährlich. Werner stellt sich den Wecker auf fünf Uhr früh, aber er kann sowieso kaum schlafen. Unruhig wälzt er sich hin und her. Kurz vor fünf steht er auf, stellt den Wecker ab und macht sich schnell fertig. An der Bushaltestelle nehmen die anderen Fahrgäste kaum Notiz von ihm; eine junge Arbeiterin schaut ihn kurz an – Werner entdeckt in ihrem Blick den Vorwurf: „Streber!“ An der Schule steigt keiner sonst aus. Die Tore sind bereits geöffnet, denn die Frauen vom VEB Gebäudereinigung wischen die Böden feucht und lesen Unrat mit den Händen auf.

      Unbemerkt erreicht Werner den ersten Stock, in dem sein Klassenraum liegt. Die Namensliste hängt noch an der Wandzeitung. Plötzlich hört er Schritte den Seitengang entlangkommen. Mit einem kurzen Ruck ist der Zettel entfernt und verschwindet in der Jackentasche. Mit schnellen, vorsichtigen Schritten ist er wieder an der breiten Treppe und hastet nach unten. Die Jacke hoch in den Nacken gestellt, läuft er in einer anderen Gangart zurück zur Bushaltestelle. Niemand soll ihn von der Schule aus am Gang erkennen können.

      Der Plan geht auf. Nach drei Minuten kommt der Bus Richtung Neubausiedlung. Die Zeit reicht aus, noch einmal nach Hause zu gehen, die Schulmappe zu holen und sich erneut an die Haltestelle zu stellen. Unschuldig begrüßt er die Schüler, die jeden Morgen mit ihm in diesem Bus sitzen. Den kurzen Weg zur Schule bummelt er absichtlich langsam dahin, bis er als Letzter die Klasse erreicht. So wird keinerlei Verdacht auf ihn fallen.

      Natürlich wird in der Pause die Namensliste vermisst und die Aufregung ist groß. Alle angedrohten Bestrafungen haben den Aufruf aber nicht wieder zurückgebracht. Eine neue Protestliste für Jupp Angenfort hat es nicht gegeben.

      Unter Verdacht

      Werner ist inzwischen selbstbewusster und mutiger geworden. Diese Entwicklung hat er den Jugendstunden in der Landeskirchlichen Gemeinschaft zu verdanken. Dort wird zwar nicht über politische Themen diskutiert, aber jeder spürt, dass er willkommen und akzeptiert ist. Man kann auch einmal anderer Meinung sein, ohne gleich abgestempelt zu werden. In den wöchentlichen Treffs besprechen sie manchmal sogar Bücher, die nicht in der DDR gedruckt wurden. Die lebendigen Bibelarbeiten festigen seinen Glauben und bestärken ihn in seiner kritischen Haltung zur Einheitsideologie der Schule.

      Hier in der Gemeinde verbringt Werner viele Abendstunden: bei Proben für das Laienspiel, mit dem Posaunenchor, bei Arbeitseinsätzen oder Ausflügen mit Jugendlichen. Hin und wieder hält er selbst Bibelstunden in Außenstellen der Gemeinschaft. Er organisiert sogar eine Jugendfreizeit in Warin. Sie schlafen in kleinen Zelten, gehen im See schwimmen, spielen Volleyball und musizieren. Abends am Lagerfeuer diskutiert er mit den Teilnehmern und liest mit ihnen in der Bibel. Auch Jugendliche, die sonst nicht in die Gemeinde gehen, werden dazu eingeladen. Werner fühlt sich wie ein Apostel, der den Jugendlichen eine wichtige – unerlaubte! – Botschaft vermittelt. Wenn die in der Schule das wüssten …

      Allerdings sucht Werner auch einen Gesprächspartner