Wunder inbegriffen. Albrecht Kaul. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Albrecht Kaul
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783765573590
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in ihrer Höhle eine brenzlige Situation. Ein Soldat schleicht bei einsetzender Dunkelheit mit zwei 20-Liter-Kanistern an ihnen vorbei zum Zaun. Dort wartet er geduckt. Was hat er vor? Endlich kommt ein Trabi angefahren, der schon hundert Meter vorher die Scheinwerfer ausschaltet und genau vor den Jungs hält. Ein jüngerer Mann steigt aus, blickt sich nach allen Seiten um. Er hält einen Beutel in der Hand, in der eine Schnapsflasche zu erkennen ist. Der Tausch gegen die Kanister ist schnell vollzogen und der Trabi knattert davon.

      Inzwischen ist es fast dunkel und der Soldat stolpert genau in die Höhle der Jungen. Er ist ebenso erschrocken wie die beiden, fasst sich aber schneller. „Du Wodka wollen?“, fragt er und hält den Jungen die Flasche entgegen.

      Sie lehnen ab und Ernst sagt geistesgegenwärtig: „Du Towarisch (Kamerad), wir Towarisch!“ Der Soldat legt verschwörerisch den Finger auf den Mund und verschwindet im Gestrüpp.

      Ein Wunsch – ein Traum?

      Mit zunehmendem Alter entdeckt Werner das Lesen. Besonders mag er Bücher, die von anderen Ländern erzählen, Abenteuerromane von Karl May (die allerdings in der DDR verboten sind) und Lebensbeschreibungen von mutigen Menschen. Manchmal gelingt es Verwandten aus dem Westen, solche Bücher ins Land zu schmuggeln.

      Diese Literatur wird auch unter Kindern getauscht, allerdings darf das nie in der Schule passieren. Wenn bei unangekündigten Ranzenkontrollen ein Buch aus der feindlichen BRD entdeckt wird, gibt es richtig Ärger. Man wird zum Direktor zitiert oder beim Montagsappell vor der gesamten Schulversammlung bloßgestellt. Auch die Eltern werden vorgeladen und verwarnt; schlimmstenfalls erfolgt sogar eine Meldung im Betrieb, wo die Eltern arbeiten. So gerät eine Familie schnell unter die Beobachtung der Staatssicherheit.

      In einem dieser Bücher, die heimlich untereinander getauscht werden, liest Werner die Lebensgeschichte von Dr. Albert Schweitzer. Er staunt über das Engagement des Arztes im Urwald von Lambarene und seine Ehrfurcht vor allem Leben. Dass man das niedere, sogenannte unwerte Leben nicht einfach beseitigt, sondern sich für Schwaches und Hilfloses einsetzt – für Werner ist es eine faszinierende Vorstellung. In der Schule wird etwas ganz anderes gelehrt, da wird immer vom Hass gegen den Klassenfeind gesprochen. Mit den Imperialisten diskutiert man nicht, die sind zu vernichten, heißt es. Mitleid mit dem Andersdenkenden oder gar Verständnis ist völlig undenkbar!

      Die Gedanken von Albert Schweitzer hinterlassen bei Werner ihre Spuren. Langsam wächst ein Wunsch in ihm heran, den er allerdings niemandem zu sagen wagt: Er möchte Missionsarzt werden wie sein großes Vorbild Schweitzer. Dabei ist ihm klar, dass dieser Wunsch völlig unsinnig ist. Wird er überhaupt zur Erweiterten Oberschule (EOS) zugelassen? Wird er Medizin studieren können? Und selbst wenn das gelingt – dem Dreizehnjährigen ist klar, dass er gar nicht aus der DDR ausreisen kann. Also ein Wunsch, der ein Traum bleiben wird! Deshalb spricht er auch mit niemandem darüber, denn alle würden ihn für übergeschnappt halten. In seiner Klasse gilt er sowieso schon als seltsamer Einzelgänger, der die Musik mehr liebt als Fußball, der zeichnet, statt Skat zu spielen …

      Einführung in die sozialistische Produktion

      Alle vier Wochen verbringen die Schüler der siebten und achten Klasse einen Tag in einem sozialistischen Großbetrieb. Sie sollen die Arbeitswelt kennenlernen und Einblick in Produktionsabläufe bekommen. ESP – Einführung in die sozialistische Produktion – nennt sich das.

      Werners Klasse geht in die Matthias-Thesen-Werft von Wismar. In riesigen Werkhallen stehen sie an langen Werkbänken und bekommen gezeigt, wie man mit Feile, Schieblehre, Hammer und Bohrmaschine umgeht. Die Arbeiten sind meist stupide und wenig motivierend. Selten geht es darum, echte Werkstücke herzustellen, die in der Werft wirklich gebraucht werden. Dennoch interessiert sich Werner für diese praktische Arbeit, zumal sein Vater ihn an solche handwerklichen Fähigkeiten nicht herangeführt hat. Gleichzeitig lernt er aber auch die sozialistische Arbeitsmoral kennen. Ist kein Material vorhanden, wird eben nicht gearbeitet und auch keine Anstalten gemacht, das Fehlende zu besorgen. Man spielt Karten oder macht eigene Besorgungen. Für die Bereitstellung der nötigen Schrauben und Bauteile ist schließlich ein anderer verantwortlich. Warten auf Material gehört zur sozialistischen Produktion. Man erzählt sich einen treffenden Witz: Kommt ein Lehrling auf die Baustelle und sagt zum Meister: „Entschuldigung, ich habe meine Schaufel vergessen.“ Der Meister: „Macht nix, stütz dich halt auf meine.“

      Was noch viel schlimmer, aber in allen Großbetrieben üblich ist, sind die privaten Werkeleien und die Selbstbedienung der Arbeiter. Wenn keine Arbeit vorhanden ist, bauen die Werktätigen Dinge, die sie zu Hause gut gebrauchen können. Antennen, Gartenbänke, ganze Hebebühnen für die private Trabbi-Reparatur und Grillroste werden geschweißt, geschraubt und auf dubiosen Wegen aus dem Werk geschmuggelt – trotz Werkschutz an den Toren und hohem Sicherheitszaun mit Stacheldraht. Unter den Arbeitern hat sich die Meinung breitgemacht: Das Material gehört doch niemandem persönlich, es ist Volkseigentum – und das Volk sind ja wir. Außerdem gibt es in der DDR keine Baumärkte. Werkzeug und Gebrauchsgegenstände fürs Hobby zu Hause kann man nicht kaufen, also versorgt man sich selbst. Viele denken: Ich kann das privat viel besser gebrauchen, als dass es hier im Betrieb vielleicht vergammelt.

      Hinzu kommt der florierende Handel mit den in Schwarzarbeit hergestellten Dingen. Wer sich einmal auf Grillroste spezialisiert hat, der hat etwas Lukratives zum Tauschen. Mit der Zeit wird das fast so etwas wie die zweite Währung. Ab und zu lässt die Betriebsleitung mal jemanden hochgehen, der dann als abschreckendes Beispiel hart bestraft wird: Sabotage am Volkseigentum! Aber im Grunde hat sich jeder an die Situation gewöhnt.

      Als Christ auf eigenen Füßen

      Mit seinem Freund Ernst fährt Werner auf „Rüstzeiten“ der evangelischen Gemeinschaft. Rüstzeit ist ein bewusster Begriff für Freizeiten mit biblischem Programm. Zwar sind Eltern und Nichtchristen oft überrascht, weil sie meinen, das Wort hätte etwas mit militärischer Rüstung zu tun. In Wirklichkeit geht es aber um die „Zurüstung“ zum engagierten Glauben. Der Name wird deshalb verwendet, weil „Freizeit“ eine Domäne der FDJ und der sozialistischen Bildungspolitik ist.

      Im Sommer 1963 fahren die Jungen – beide sind 13 Jahre alt – auf eine Rüstzeit nach Hohenkirchen. Der kleine verträumte Ort am Wohlenberger Wiek an der Ostsee ist nicht weit von Wismar entfernt, sodass sie ihn mit ihren Rädern erreichen können. Geschlafen wird auf dem Dachboden einer umgebauten Scheune, die zum Pfarrhof gehört. Natürlich nur auf Strohsäcken, denn für 20 Betten ist gar kein Platz. Wenn es nachts ganz ruhig wird, hört man ein leises Knacken und Schaben. Das ist richtig unheimlich.

      Schließlich untersucht Rolf, der Rüstzeitleiter, die Geräusche und stellt fest, dass die Balken des Dachstuhles genüsslich von Holzwürmern zerfressen werden. „Da wollen wir mal hoffen, dass die Würmer nicht so schnell sind und der Dachstuhl bis zum nächsten Sonntag hält“, meint er. Das eifrige Ticken der Holzwürmer verfolgt sie jede Nacht, aber die Jungs gewöhnen sich an das Geräusch oder übertönen es mit Witzen und Lachen. Nur wenn das Wetter regnerisch und die Luft feucht ist, machen die Würmer eine Verschnaufpause. Alle zwei Tage muss der Boden gekehrt werden, weil der feine Holzstaub sich im ganzen Raum verteilt und auch auf die Schlafsäcke fällt.

      Gekocht wird von Rolfs Frau und man kann nur staunen, was für ein schmackhaftes Essen sie unter primitivsten Verhältnissen bereitet. Die „Küche“ befindet sich im ehemaligen Waschhaus, einem kahlen Raum ohne Putz an den Wänden. Es gibt einen Kohleherd, der mehr rußt als brennt, und einen Wasserhahn. Der Abfluss ist ein Loch im Boden und alles, was man da hineingießt, tritt im Hof wieder zutage, um schließlich im Sand zu versickern. Speisereste werden von Pfarrers Hühnern gern angenommen.

      Ein besonderer Höhepunkt ist die Nachtwanderung. Alle Taschenlampen müssen in der Scheune bleiben, nur Rolf als Leiter hat eine dabei – für alle Fälle. Erst gehen sie auf einem Forstweg in den Wald hinein, dann biegt Rolf unvermittelt vom Weg ab und sie schlagen sich durchs Unterholz. Zweige peitschen ins Gesicht und Brombeerranken reißen an den Trainingshosen. Endlich hat Rolf wieder einen schmalen Weg gefunden. Jetzt hören sie in der Ferne Geschützfeuer, Maschinengewehre und dumpfe Granatwerfer. Sie kennen die Geräusche zwar vom Russenplatz, aber hier im