Dem Schreck und der Überraschung folgte nüchterne Überlegtheit.
Himmel, dachte Don Juan grimmig, wenn man jetzt schießen könnte! Zum Greifen nahe sahen sie die Ruderanlage der „San José“ vor sich. Eine bessere Schußposition hätten sie sich niemals wünschen können. Doch es war ausgeschlossen, daran auch nur zu denken. In der Zeit, in der man trockenes Pulver an Deck geschafft und die Geschütze klariert hatte, würden die Geschütz-Crews auf den Kriegsschiffen ebenfalls Gefechtsbereitschaft hergestellt haben. Dabei war noch nicht einmal das Risiko einkalkuliert, daß man unter Umständen doch Pulver erwischte, das nicht völlig trocken war. Und dann, wenn es unter Umständen einen Versager nach dem anderen gab, war man dem Gegner praktisch wehrlos ausgeliefert.
Nein, der einzige Ausweg bestand darin, schleunigst den Schwanz einzuziehen und von der Bildfläche zu verschwinden.
Auch auf den Galeonen und Karavellen waren sie inzwischen wach geworden und hatten den Eindringling mit seinen rot-weiß gestreiften Segeln entdeckt. Wahrscheinlich war ihnen der Schreck genauso in die Knochen gefahren wie den Männern auf der Schebecke. Denn das Vorhandensein des Dreimasters zeugte immerhin von der Tatsache, wie wenig es auch den Besatzungen der Kriegsschiffe während des Regens möglich gewesen war, ihre unmittelbare Umgebung unter Kontrolle zu halten.
Gesichter tauchten über der Heckbalustrade der „San José“ auf. Auf den Galeonen und Karavellen entstand Wuhling. Gestikulierend und brüllend rannten Soldaten, Decksleute und Offiziere hin und her.
Auf Don Juans Befehl ließ Ramón Vigil die Schebecke abfallen. Dann, in der Halse, krängte der Dreimaster hart nach Backbord. Auf Gegenkurs liegend, gewann die Schebecke jedoch rasch wieder an Fahrt.
Die Kapitäne der am Schluß segelnden Karavellen hatten keine Chance mehr, den Fluchtweg zu versperren. Mit ihren vergleichsweise schwerfälligen Schiffen waren sie nicht in der Lage, ein solches Manöver noch rechtzeitig einzuleiten. Und die Schaluppenführer an der Leeseite hatten offenbar noch gar nicht begriffen, was sich abspielte.
Hinter den Verschanzungen der Kriegsschiffe tauchten Soldaten auf, die Musketen in Anschlag brachten.
Reflexartig gingen Don Juan und seine Gefährten in Deckung, während die Schebecke nur noch wenige Yards von der offenen See achteraus entfernt war.
Aber die Feuchtigkeit, die nach dem Wolkenbruch noch immer in der Luft hing, tat das ihre. Reihenweise schlugen die Flints auf den Reibstahl und verursachten nicht mehr als ein trockenes Klicken. Das empfindliche Zündkraut in den Pulverpfannen der Musketen reagierte nicht auf die schwachen Funken. Kein einziger Schuß fiel.
Augenblicke später war die Schebecke bereits achtern in der Dunkelheit verschwunden.
Schon nach einer halben Stunde setzte ein erneuter Platzregen ein, der wie mit verbissener Wut auf die Decksplanken prasselte. Der Dreimaster hatte nach Nordosten hin aufgekreuzt und lag nun wieder auf Südostkurs. Trotz der Blindheit, zu der sie alle verurteilt waren, hatte Don Juan immerhin die Hoffnung, den Anschluß an den Kampfverband nicht zu verlieren.
Die Zeit verstrich in quälender Monotonie. Der Regen schien nicht enden zu wollen. Das Gefühl, durch diese elende, strähnige Watte zu segeln, schlug sich auch auf die Stimmung der Männer nieder. Damit sie nicht vollends in Untätigkeit verharren mußten, gab Don Juan Order, die klatschnassen Drehbassenrohre aus den Lafetten zu nehmen und unter Deck zu schaffen. José Buarcos, Jorge Matteo und zwei weitere Männer aus der Stamm-Crew begannen damit, die Rohre zu entladen und dann gründlich zu trocknen. Wenn sie zügig arbeiteten, konnten sie die Gefechtsbereitschaft wieder herstellen, sobald der Regen aufgehört hatte.
Es erwies sich als ein Trugschluß. Der Regen legte nur eine kurze Atempause ein, und dann rauschte es von neuem wie aus Mordskübeln auf die Schebecke nieder. Als wollte die Natur ein boshaftes Spiel mit den einsamen Männern auf dem Dreimaster treiben, hielt der Schüttregen mit Unterbrechungen bis zum Morgen an.
Doch die frühen Stunden des 23. Juli bescherten Don Juan und seinen Gefährten keineswegs Besserung. Das erste Grau, das über der östlichen Kimm heraufzog, verhüllte sich sehr bald mit einem milchigen Schleier.
Wie zum Hohn versiegte zwar der Regen endgültig, doch statt dessen breiteten sich Nebelschwaden aus, die sich zunehmend verdichteten. Bald darauf rauschte die Schebecke durch eine hellere Art von Watte, die noch viel weniger Sicht erlaubte als der vorangegangene Wolkenbruch. Vom Achterdeck aus konnte Don Juan nicht einmal mehr den Bugspriet erkennen.
Er war geneigt, diese letzte Nacht zu verfluchen. Und ob der neue Tag eine Aussicht auf Erfolg brachte, war in noch höherem Maße zu bezweifeln. Alles schien sich gegen den Bund der Korsaren verschworen zu haben. Wie es aussah, hatte sich das Glück offenbar auf die Seite von Don Antonio de Quintanilla geschlagen.
Don Juan beschloß, den Südostkurs vorerst beizubehalten. Solange der undurchdringliche Nebel anhielt, hatte er kaum eine andere Wahl. Ein zweites Mal sollte es ihm nicht passieren, dem spanischen Kampfverband aus Mangel an Sicht zu nahe zu geraten.
Die Männer hatten während der Nachtstunden praktisch kein Auge zugetan. Anfangs war es die völlig durchnäßte Kleidung gewesen, die ihnen keinen Schlaf erlaubt hatte. Dann, nach dem Klarieren der Geschützrohre, hatten sie sich wieder in ständiger Gefechtsbereitschaft befunden. Ihr nasses Zeug hatten sie inzwischen gegen trockene Sachen ausgewechselt.
Aus dem Rauchrohr der kleinen Kombüse quollen schwarzgraue Wölkchen, die vom Nebel aufgesogen wurden. Zwei von Ramón Vigils Gefährten hatten das Kochfeuer angefacht und brutzelten getrockneten Speck mit Bohnen, Dörrfleischbrocken und scharfen Gewürzen. Das Ganze war bestens geeignet, die Männer im Handumdrehen wieder aufzumuntern.
Nach der frühmorgendlichen Mahlzeit begannen sie auf Don Juans Anweisung damit, die Gefechtsschäden auszubessern. Hammerschläge und das Kreischen der Sägen klangen dumpf im Nebel.
Stunden vergingen, bis sich die Nebelschwaden auflösten – allmählich, wie zögernd. Die Sonne stand bereits hoch im Südosten, als ihre ersten Strahlen bis auf die Wasseroberfläche durchbrachen. Und bald darauf schien die Natur wiedergutmachen zu wollen, was sie den Männern auf See in der vergangenen Nacht an Verdruß bereitet hatte.
Wolkenlos und azurblau dehnte sich der Himmel über der Karibik, als hätte es die Regengüsse der zurückliegenden Stunden nie gegeben. Nach wie vor wehte ein handiger Nordost und verlieh der Schebecke rauschende Fahrt bei halbem Wind.
In den späten Vormittagsstunden hatten die Männer ihre Reparaturarbeiten beendet. Die Drehbassenrohre wurden wieder in die Gabellafetten gehängt. Auch die Pulvervorräte waren untersucht worden. Vorsorglich hatte man jene Fäßchen ausgesondert, bei denen der Verdacht auf Feuchtigkeit bestand.
Don Juan konnte nicht von sich behaupten, in guter Stimmung zu sein. Nach allen Anstrengungen – zuerst gemeinsam mit Arne von Manteuffel und dann allein – hatte er nicht das Gefühl, etwas Wesentliches ausgerichtet zu haben. Zwar hatte es für den Kampfverband eine gewisse Verzögerung gegeben, aber das war nicht einmal alleiniges Verdienst der Störangriffe durch die Schebecke. Don Juan brauchte in diesem Zusammenhang nur an den Badewannen-Aufenthalt des Verbandes in Cardenas denken. Er konnte sich sehr gut vorstellen, wie Capitán Cubera diesem Zeitverlust nur zähneknirschend zugestimmt hatte.
Wie erwartet, gab es nirgendwo auch nur das geringste Anzeichen von Mastspitzen über der Kimm. Don Juan hatte zwei Männer als Ausgucks eingesetzt und mit Spektiven ausgerüstet. Ihre vordringliche Aufgabe bestand darin, den Voraussektor abzusuchen. Nach dem Mißerfolg der letzten Nacht sah Don Juan sein wichtigstes Ziel darin, nunmehr vorauszusegeln und die Schiffe des Bundes der Korsaren vor dem anrückenden Kampfverband aus Havanna zu warnen.
Daß achteraus kein Schiff zu erspähen war, erschien nur logisch. Mit ihrer wesentlich höheren Fahrt hatte die Schebecke den Verband schon in den frühen Morgenstunden hinter sich gelassen.
Doch Stunde um Stunde