Doch die Begeisterung sollte nicht lange dauern, denn schon in den nächsten Augenblicken breitete sich schlagartig neue Verwirrung aus – Verwirrung an beiden Fronten.
4.
Don Gregorio de la Cuesta verstand plötzlich die Welt nicht mehr, als der düstere Zweidecker – noch während seine Soldaten die Waffen streckten – wie eine geisterhafte Erscheinung fast längsseits der Galeone auftauchte – drohend, mit ausgerannten Stücken und besetzten Drehbassen.
Marc Corbett, Sir Edward und die übrigen Mannen der englischen Crews waren nicht weniger verblüfft, denn auch sie hatten im Getümmel des Enterkampfes nicht mehr auf den Zweidecker geachtet, der in nördliche Richtung davongesegelt war.
O Lord, jetzt würde sich zeigen, welche Ziele dieses unheimliche Schiff verfolgte. Die Situation spitzte sich dramatisch und beängstigend zu. Warum war der Zweidecker zurückgekehrt? Wollte er auch noch dieses Schiff versenken oder gar entern? Oder wollte man verhindern, daß es die Engländer als Prise nahmen? Diese Fragen lagen ihnen schwer auf der Seele.
Don Gregorio de la Cuesta und seine Offiziere allerdings waren in diesem Augenblick fest davon überzeugt, doch in eine Falle geraten zu sein. Das alles sah zu sehr nach Absprache zwischen dem Zweidecker und den Engländern aus. Um so mehr überraschte sie kurze Zeit später das, was tatsächlich geschah.
Jetzt war sie deutlich zu sehen – jene schlanke, rassige Frau, bei der es sich wohl um das „blutrünstige Piratenweib“ handeln mußte, von dem der Bootsmann gesprochen hatte. Don Gregorios Augen hefteten sich wie gebannt auf den Körper dieser Frau, die auf dem Achterdeck stand.
Sir Edward hatte sich gerade zu Marc Corbett und dem gefangenen spanischen Capitán auf das Achterdeck begeben, als auch er wie angewurzelt stehenblieb und zu dem düsteren Schiff mit den beiden Kanonendecks hinüberstarrte.
Plötzlich geriet Bewegung in die Gestalt der Frau, die mit verschränkten Armen vor der Querbalustrade des Achterdecks verhielt. In ihrer Nähe stand ein wüst aussehender Mann, der an einen brutalen Schläger erinnerte.
„Streicht die Flagge, Engländer!“ rief die Frau mit schneidender Stimme. „Wenn ihr diese Aufforderung nicht befolgt, jagen wir eine volle Breitseite in die Galeone!“
Sir Edward und Marc Corbett erblaßten. Don Gregorio aber atmete erleichtert auf, denn nach den Worten des „Piratenweibes“ hatte es den Anschein, als wolle sie die Engländer zur Strecke bringen. Diese Illusion wurde jedoch gleich wieder zerstört.
„Das gleiche gilt natürlich auch für die Spanier“, fuhr die Frau fort, „für den Fall, daß sie Lust verspüren sollten, den Spieß noch einmal umzudrehen.“
Jetzt erschlaffte auch die Gestalt de la Cuestas.
„Verdammt!“ murmelte er erschüttert und wirkte ziemlich hilflos, denn jetzt hatte er überhaupt keinen Durchblick mehr. Wem wollte dieses rassige Weib denn nun an den Kragen – den Engländern oder den Spaniern? Oder gar allen beiden?
Auch die Mannen der „Orion“ und „Dragon“ standen samt ihren Offizieren ziemlich belemmert da und wußten im Augenblick nicht, wie sie sich verhalten sollten.
„Eine äußerst unangenehme Situation“, sagte Sir Edward mit einem raschen Seitenblick auf den spanischen Kommandanten und seine Leute. „Sind die Geschütze nicht wenigstens teilweise einsatzbereit?“
„Das schon, Sir“, erwiderte Marc Corbett, ohne die Frau auf dem Zweidecker aus den Augen zu lassen. „Womöglich könnten wir jetzt den Zweidecker mit einer Breitseite eindecken. Bei dieser Entfernung von knapp dreißig Yards wäre das wohl kaum ein Problem, aber ich fürchte, daß die Kerle da drüben auf jeden Fall schneller wären als wir. Im Gegensatz zu uns haben sie gewissermaßen die Hand am Drücker, und wer bei dieser kurzen Distanz zuerst schießt, hat gewonnen.“
„Hm, wirklich verdammt unangenehm“, murmelte Sir Edward. „Und daß die Kerle auf dem Zweidecker zu schießen verstehen, ist uns ja inzwischen allzu sattsam bekannt. Wir würden höchstwahrscheinlich den kürzeren ziehen. Also bleibt uns nichts anderes übrig, als die Befehle dieses Frauenzimmers zu befolgen, so sehr uns das auch widerstreben mag.“
Für weitere Erörterungen blieb den beiden Männern von der „Orion“ keine Zeit, denn die Stimme der Roten Korsarin tönte erneut zu ihnen herüber.
„Na, haben Sie sich meinen Befehl gründlich genug überlegt, Señores und Gentlemen? Wenn meiner Anordnung nicht sofort Folge geleistet wird, werde ich den Feuerbefehl geben, vielleicht beschleunigt das Ihre Entscheidungsfreudigkeit.“
„Was erwarten Sie von uns, Madam?“ ließ sich jetzt Marc Corbett vernehmen.
„Daß auch ihr Engländer sofort die Waffen fallen laßt!“ rief Siri-Tong zurück. „Danach werdet ihr zehn Engländer und zehn Spanier bestimmen, die die Waffen einsammeln und auf der Kuhl anhäufen.“
Marc Corbett wandte sich zu Sir Edward.
„Tut mir leid, Sir, aber diese Frau scheint es tatsächlich ernst zu meinen. Wenn wir nicht gehorchen, wird es noch größeren Ärger geben.“
„Veranlassen Sie das, was nötig ist“, sagte Sir Edward mit starrem Gesicht. „Wir kommen ohnehin nicht drum herum.“
Der Erste Offizier gab einige Befehle, und die Mannen, deren Enterkampf so hervorragend geglückt war, ließen verhalten fluchend und zähneknirschend die Waffen fallen – wie es zuvor schon die Dons getan hatten.
Marc Corbett bestimmte die Männer, die das Waffenarsenal einzusammeln hatten. Nachdem das geschehen war, wandte er sich an Siri-Tong.
„Ihr Befehl wurde ausgeführt, Madam!“ meldete er. „Es wird niemand Widerstand leisten. Doch alle an Bord dieser Galeone, ob Engländer oder Spanier, wären Ihnen dankbar, wenn Sie uns erklären könnten, was Sie mit dieser Aktion bezwecken. Schätze gibt es auf diesem Schiff mit Sicherheit nicht, es handelt sich um eine spanische Kriegsgaleone. Wir, die Engländer, haben sie gekapert, weil wir als Schiffbrüchige eine Möglichkeit suchten, diese Insel zu verlassen. Zudem haben uns die Spanier massiv angegriffen, wie Sie wissen.“
„Noch ist es nicht an der Zeit, Rechtfertigungen vorzubringen“, sagte Siri-Tong kalt. „Was ich mit dieser Aktion bezwecke, wird Ihnen schon sehr bald klarwerden. Ich verlange nämlich, daß die beiden Kommandanten und die Offiziere der ‚Orion‘ und ‚Dragon‘ an Bord meines Schiffes kommen.“
Marc Corbett zeigte klar.
„Bedauerlicherweise kann der Kommandant der früheren ‚Dragon‘ diesen Befehl nicht befolgen, Madam!“ rief er dann. „Mister Stewart befindet sich nämlich als Gefangener an Land.“
Als Gefangener? Siri-Tong war überrascht, aber sie verbarg diese Überraschung.
„Dann lassen Sie ihn holen!“ befahl sie.
„In Ordnung, Madam!“ tönte es zurück. „Wir werden uns sofort darum kümmern.“
Marc Corbett beauftragte Arthur Gretton damit, den schurkischen Charles Stewart von der Insel zu holen und bei dieser Gelegenheit auch die Mannen, die dort verblieben waren, von der derzeitigen Lage zu unterrichten.
Wenig später wurde ein englisches Boot mit Arthur Gretton an Bord von sechs unbewaffneten Rudergasten zur Insel gepullt. Ein weiteres Boot nahm Sir Edward und die übrigen Offiziere an Bord, um sie zu dem Zweimaster hinüberzubringen.
Die Rote Korsarin musterte die Gentlemen mit eisigen Blicken. Die Männer konnten nicht verhindern, daß sie ein flaues Gefühl in der Magengegend verspürten. Alle hatten sich inzwischen auf der „Caribian Queen“ eingefunden, einschließlich des abgesetzten Kommandanten der „Dragon“, Charles Stewart, den man gefesselt an Bord gebracht hatte.
Während sich Siri-Tong an der Querbalustrade