Marc Corbett einigte sich unterdessen rasch mit Arthur Gretton, dem Ersten Offizier der „Dragon“.
Ein Teil der Crew half beim Bau der Hütten mit, ein anderer Teil der Männer von der „Dragon“ wurde den Tauchergruppen zugeordnet. Es sollte versucht werden, die beiden gesunkenen Kriegsgaleonen so weit wie möglich auszuschlachten. Die beiden letzten Jollen der „Dragon“ wurden in den Bereich des nunmehr gemeinsamen Lagers verholt.
Niemand kümmerte sich jetzt mehr um die erlauchten Adligen und ebensowenig um die zwölf zurückgebliebenen Kerle von der „Lady Anne“. Bei ihnen handelte es sich um eine so unbedeutende Minderheit, daß von ihnen kaum eine Gefahr drohte, zumal das Lager mittlerweile nach allen Seiten gut bewacht wurde.
Sir James Sandwich und seine Gentlemen setzten sich beleidigt in den Schatten oberhalb des Strandes und zeigten weiterhin keine Bereitschaft, auch nur einen Finger zu rühren.
Die zwölf Kerle von der „Lady Anne“ trödelten am Strand entlang, immer weiter vom Lager weg, bis sie sich schließlich vollends verdrückt hatten.
Die Jolle mit Stewart, Monk und den übrigen Halunken war unterdessen nach Südosten gesegelt und ebenfalls außer Sichtweite.
9.
Für die Arwenacks war dieser Tag so düster, als hingen dichte schwarze Wolken unmittelbar über ihren Köpfen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, daß die Sonne nach wie vor strahlend am blauen Himmel stand und eine handige Brise die See zu freundlichem Wellengang streichelte.
Die „Isabella“ lag an diesem Nachmittag des 23. August in der Südbucht der östlichsten Insel der Pensacola Cays. An Bord des schlanken Schiffes herrschte im wahrsten Sinne des Wortes Grabesruhe.
Der Kutscher hatte an Bord das Regiment übernommen, und keiner wagte, seinen Anordnungen auch nur andeutungsweise zu widersprechen. Klipp und klar und unmißverständlich hatte er erklärt, daß auf dem Schiff absolute Ruhe zu herrschen habe. Andernfalls könne er für nichts mehr garantieren.
Am gestrigen Tag, auf der Fahrt zu den Pensacola Cays, hatte der Kutscher das Unmögliche gewagt. Mit Hilfe Mac Pellews und der Zwillinge hatte er die Pistolenkugel herausgeholt, die in Hasards Rücken eingedrungen und dicht vor dem Herzen steckengeblieben war.
Alle an Bord der „Isabella“ hatten den Atem angehalten und das Schlimmste befürchtet.
Aber der Seewolf war dem Kutscher nicht unter der Hand weggestorben.
Dennoch hatte sich bislang keine rechte Besserung einstellen wollen. Jeder wußte, daß Hasard noch lange nicht über den Berg war.
Ben Brighton harrte regungslos wie ein Standbild an der Heckbalustrade des Achterdecks aus. Doch seine Ruhe war nur äußerlich. Innerlich empfand er ein Vibrieren und Rumoren, wie er es selten erlebt hatte.
Ähnlich erging es zweifellos den Männern. Die meisten hockten auf der Kuhl, redeten nur im Flüsterton, und wenn sie sich tatsächlich einmal bewegen mußten, dann taten sie es so leise, daß sie sich dabei selbst nicht hörten.
Die Anspannung, die auf der Crew des Seewolfs lastete, war geradezu körperlich spürbar.
Es war wie ein Schmerz, der sie alle gepackt hatte und zur Hilflosigkeit verdammte.
Sie konnten nichts tun für Philip Hasard Killigrew, buchstäblich nichts. Das bißchen Hilfe, das möglich war, mußte sich zwangsläufig auf einen kleinen Personenkreis beschränken. Denn es konnten nicht ständig alle Mann in die Krankenkammer poltern, wo Hasard noch immer ohne Bewußtsein lag.
Ben Brighton wußte, wie düster es in den Köpfen der Männer aussah. Er selbst konnte sich von dieser Stimmung nicht befreien.
Ben und all die anderen hatten viele Menschen sterben sehen. Unendliche Tragik hatten sie erlebt und immer wieder lernen müssen, wie schwach und hilflos jeder einzelne von ihnen doch im Grunde war.
Ihre Stärke aber hatten sie in der Gemeinschaft mit dem Seewolf bewiesen. Und nun sollte es mit dieser Gemeinschaft plötzlich vorbei sein? Denn ohne Hasard, das spürten sie alle, würde ihr Haufen nie wieder der alte sein.
Auch Ben Brighton hatte in den letzten Stunden erkennen müssen, daß es sich anders verhielt als in früheren Gefahrensituationen. Seinerzeit, als der spanische Kampfverband unter Don Antonio de Quintanilla gegen die Schlangen-Insel vorgerückt war, war Hasard in den Wirren des Gefechtsgeschehens über Bord gegangen. Doch es hatte in der Zeit seines Verschollenseins immer noch Hoffnung gegeben. Man hatte ja nicht einmal gewußt, ob er verwundet worden war.
Jetzt aber waren die Arwenacks mit einer völlig neuen Gefahr konfrontiert – mit der Tatsache, daß Hasards Leben wahrhaftig an einem seidenen Faden hing.
Die Männer waren gewohnt, gegen faßbare und sichtbare Gegner zu kämpfen. In solchen Situationen wußten sie, woran sie waren. Da konnten sie zuschlagen und sehen, welches Ergebnis ihr Mut und ihre Entschlossenheit bewirkten. Im Augenblick jedoch gab es niemanden, den sie mit einem Säbelhieb, einer Pistolenkugel oder auch nur mit der bloßen Faust davon abhalten konnten, sich auf den wehrlosen Seewolf zu stürzen und ihm das Lebenslicht auszublasen.
Nein, die Macht, die ihn bedrohte, war stärker als sie alle zusammen. Und sie würde sich bei der Entscheidung, ob Philip Hasard Killigrew am Leben blieb oder nicht, kaum dreinreden lassen.
Ben Brighton konnte nicht umhin, an die vielen Jahre zu denken, die er gemeinsam mit Hasard auf den Achterdecks ihrer Schiffe verbracht hatte. Die neunte „Isabella“ war es bereits, auf der sie jetzt fuhren, und es war die stolzeste von allen Galeonen, die die Arwenacks ihr eigen genannt hatten. Sollte die neunte „Isabella“ für den Seewolf etwa zum Schicksalsschiff werden?
Unzählige Male hatten sie in den vergangenen Jahren dem Tod ins Auge geblickt. Mörderische Gefahren waren sie mit heiler Haut entronnen, oder sie hatten schlimme Blessuren davongetragen. Aber immer waren ihre Entschlossenheit und ihre Kampfkraft stärker gewesen als alles, was sich ihnen in den Weg gestellt hatte.
Auch die fürchterlichsten Unwetter hatten sie auf den sieben Weltmeeren erlebt, und manches Mal hatten sie dabei geglaubt, den entfesselten Naturgewalten nicht mehr entrinnen zu können.
Das alles sollte nun umsonst durchgestanden worden sein?
Es mußte wohl etwas Wahres daran sein, wenn man sagte, daß auch der stärkste Mann eine Kugel nicht verkraften konnte, die ihn in den Rücken getroffen hatte.
Sir Andrew Clifford hatte für seine Hinterlist beim Duell mit Hasard mit dem Leben bezahlt. Batuti hatte in ohnmächtigem Zorn gehandelt, und er hatte dabei genauso gedacht wie alle anderen an Bord der „Isabella“, als er den Pfeil abfeuerte, der den niederträchtigen Kerl auf der Stelle tötete.
Doch die Rache hatte niemandem an Bord ein Gefühl der Erleichterung gebracht.
Zu ungeheuerlich war das Geschehen gewesen, und zu ungewiß war jetzt die Zukunft. Hasard war es gewesen, der maßgeblich daran mitgewirkt hatte, die neue Heimat in der Karibik aufzubauen. All das, was heute die Schlangen-Insel bedeutete, war zum großen Teil sein Werk. Sie hatten England den Rücken gekehrt, um hier, in der Neuen Welt, ein Leben in Freiheit zu führen. Sollte Hasard etwa der einzige sein, der diesen Vorzug nicht mehr genießen konnte?
Ben Brighton hielt es auf dem Achterdeck nicht länger aus. Er wußte auch, daß die Männer die Ungewißheit kaum noch ertragen konnten. Er war der einzige, dem der Kutscher erlaubt hatte, die Krankenkammer zu betreten. Es war also gerechtfertigt, wenn er nach Stunden wieder einmal nach dem Rechten sah und die Männer anschließend über die Lage informierte.
Auf Zehenspitzen bewegte er sich über die Decksplanken. Im Vorbeigehen nickte er den Arwenacks zu, die ihn mit fragenden und besorgten Blicken ansahen. Er bemerkte, daß die meisten nicht einmal mehr zu flüstern wagten. Sie