Für Arthur Gretton schien es unverständlich, daß die achtundzwanzig Killigrew-Schnapphähne allen Ernstes einen Angriff auf die achtzigköpfige Übermacht der „Dragons“ riskieren wollten. Dieser O’Leary und seine Halunken schienen der Ansicht zu sein, es mit den Männern von der Marine aufnehmen zu können.
Gewiß, Schlägereien und alle anderen Arten von Kämpfen und Gefechten waren ihr Metier, und darin fühlten sie sich stark. Aber es gegen eine mehr als zweieinhalbfache Übermacht zu versuchen, die noch dazu bewaffnet war, das übertraf denn doch das Maß aller Dreistigkeit, die Gretton bislang erlebt hatte.
Diese Strolche mußten übergeschnappt sein. Oder die Gier nach dem Gold im Bauch der „Lady Anne“ hatte ihnen den Verstand geraubt.
Minuten später begann mit Gebrüll der Vormarsch der Horde. Die meisten hatten sich mit langen Knüppeln aus dem Dickicht versorgt. Vier waren es, die Bootsriemen vom Strand geholt hatten und diese wie Lanzen führten.
Den Männern von der „Dragon“ verschlug es jedoch endgültig die Sprache, als sie sahen, wer an der Spitze der Horde losstürmte.
Charles Stewart, ihr eigener Kommandant!
Nein, dieser Hundsfott war nie und nimmer mehr Kommandant. Auch dem letzten Mann in den Reihen der „Dragon“-Crew schwand in diesem Moment jeglicher Zweifel. Stewart war ein Halunke ohnegleichen. Er verdiente nicht, daß man im Zusammenhang mit ihm überhaupt noch daran dachte, daß er jemals den Kommandantenrang innegehabt hatte.
Das Gebrüll der anrückenden Horde schwoll an.
Die Männer von der „Dragon“ standen geduckt und mit angespannten Muskeln.
Geoff Kearney und sein Freund Thomas Haddock gehörten zu jenen, die eine der Bootsriemen-Lanzen auf sich zurasen sahen. Wie die anderen auch wichen sie diesem Angriff im letzten Moment durch einen blitzschnellen Sprung zur Seite aus.
Doch sie begingen nicht etwa den Fehler, die wertvollen Riemen durch Säbelhiebe zu zerschmettern. Vielmehr ließen sie die dazugehörigen Kerle kurzerhand leerlaufen und trieben sie dann mit wohlgezielten Hieben der Plattseiten ihrer Klingen zurück.
Erste Schmerzensschreie gellten, als die Riemen zu Boden fielen und die Kerle sich fluchtartig herumwarfen.
Im nächsten Augenblick war die Hauptangriffswelle der Killigrew-Meute heran. Mit schwirrenden Knüppelhieben versuchten sie, die drohenden Klingen von Schiffshauern, Enterbeilen und Messern beiseite zu fegen. Ein Versuch, der im Ansatz erstickt wurde.
Nachdem die Bootsriemen-Träger gleich zu Beginn die Flucht ergriffen hatten, kamen auf jeden Angreifer mindestens drei Männer von der „Dragon“. Arthur Gretton konnte es sich leisten, Stewart an den Rand des Kampfgetümmels zu treiben und die Klinge mit ihm zu kreuzen.
Nur wenige der Knüppelhiebe trafen überhaupt. Innerhalb von zwei, drei Minuten mußten O’Learys Kerle begreifen, daß sie den Mund zu voll genommen hatten. Säbel und Äxte zerschmetterten ihre primitiven Schlagwaffen, und dann setzten die Männer von der „Dragon“ ihre keineswegs ungeübten Fäuste ein.
Das verbissene Keuchen der Kämpfenden wurde immer mehr von Schmerzenslauten und Schreien überlagert. Nach wie vor klirrten die Säbelklingen Grettons und Stewarts, doch schon jetzt war abzusehen, daß der Erste Offizier seinen ehemaligen Kommandanten in zunehmende Bedrängnis brachte.
Plötzlich mußte Arthur Gretton voller Verblüffung feststellen, daß sich Stewart mitten in einer neuen Attacke Hals über Kopf herumwarf und die Flucht ergriff.
Erst einen Atemzug später erkannte Gretton den Grund für dieses absonderliche Verhalten. Lächelnd ließ er den Säbel sinken.
Am Rand der Lichtung waren etwa dreißig Männer von der „Orion“ aufmarschiert. Unter dem Kommando von Marc Corbett nahmen sie Aufstellung und brachten ihre Musketen in Anschlag. Zusätzlich waren sie noch mit Pistolen und Entersäbeln bewaffnet.
Sekunden später hatten auch O’Leary und seine Kerle begriffen.
Hals über Kopf warfen sie sich herum und folgten Stewarts Beispiel, als säße ihnen der Gehörnte persönlich im Nacken. Jene, die von den „Dragons“ nicht sofort Abstand gewinnen konnten, kriegten zur Untermalung der neuen Lage noch einen Tritt in den Hintern.
„Auf geht’s, Freund, so kommst du schneller in Fahrt!“ brüllte Geoff Kearney, nachdem er einem der O’Leary-Strolche seinen Stiefel in den Achtersteven gerammt hatte.
Der Mann stolperte armrudernd, raste mit kleinen schnellen Schritten los und hatte gleich darauf die übrigen Fliehenden eingeholt.
Brüllendes Gelächter von der „Dragon“-Crew hallte den Kerlen nach, und gleich darauf stimmten auch die Männer von der „Orion“ mit ein. Sie ließen ihre Musketen sinken, denn es war nicht erforderlich gewesen, auch nur einen einzigen Schuß abzugeben.
In panischer Hast erreichten Charles Stewart und Sir Robert als erste die „Privat-Jolle“ des ehemaligen Kommandanten. Keuchend verharrten sie, nachdem sie die beruhigende Feststellung getroffen hatten, daß sich die beiden Goldkisten noch an ihrem Platz befanden.
Joe Doherty hockte unerschütterlich wie ein Granitfelsen auf der Achterducht.
Mit einer Kopfbewegung deutete er zu den beiden anderen Jollen, die etwa einen Steinwurf weit entfernt lagen.
„Gibt wohl Ärger, was?“
Stewart und Monk ruckten herum.
Drüben marschierten die Bewaffneten unter dem Kommando von Marc Corbett auf und versperrten den Weg zu jenen Jollen, die Arthur Gretton für sich beanspruchte.
„Dieser Hurensohn!“ fluchte Stewart. „Dieser verdammte Schweinehund von einem Ersten Offizier erdreistet sich …“
Sir Robert unterbrach ihn mit einer heftigen Handbewegung. Schon waren die Schritte der anderen im Dickicht zu hören.
„Lamentieren hilft uns nicht weiter, Stewart. Wir müssen sehen, wie wir mit dem Problem fertig werden. Wie viele Männer passen in die Jolle?“
Stewart starrte ihn an.
„Neunzehn“, sagte er tonlos. „Das ist die äußerste Belastung.“
„Dann müssen wir unsere Auswahl treffen“, sagte Sir Robert kalt.
Aus dem Unterholz brachen sie jetzt hervor, stolpernd, fluchend und keuchend. Auch die sieben Gentlemen waren dabei, das Entsetzen stand in ihren bleichen Gesichtern.
Charles Stewart hatte augenblicklich verstanden, auf was Sir Robert hinauswollte. Eilends wandte sich der Ex-Kommandant zu seinem Leibwächter um.
„Es könnte wirklich Ärger geben, Mister Doherty. Aber mehr von unseren eigenen Leuten. Wenn einer gegen meine Befehle verstößt, hauen Sie ihm was aufs Maul. Klar?“
Ein Grinsen kerbte sich in das wüste Gesicht des Monstrums.
„Aye, aye, Sir“, sagte er, und es klang wie ein Grollen aus der Tiefe seines mächtigen Oberkörpers. Voller Vorfreude auf mögliche Taten richtete er sich auf und nahm hinter Stewart Aufstellung, als dieser die heranstürmende Meute mit Donnerstimme und energischen Handbewegungen zum Stehen brachte.
„Halt, halt! Zur Panik gibt es keinen Grund, verdammt noch mal. Haltet gefälligst Ruhe. Wir müssen jetzt sorgfältig überlegen, wie es weitergeht.“
Einer der Gentlemen trat einen Schritt vor und zupfte dabei mit blasierter Miene an seiner verdreckten Kleidung. Die Art, wie er es tat, hatte etwas Vorwurfsvolles – als sei Stewart für den derzeitigen erniedrigenden Zustand der Hochwohlgeborenen verantwortlich.
Der Mann war ein dünnes und blasses Bürschchen von fünfundzwanzig Lenzen, doch er sah wesentlich älter aus. Das zügellose Leben hatte unübersehbare Spuren in sein Gesicht gegraben. Sein Name war Sir James Sandwich. Stewart