Von ihrem Versteck aus konnten sie deutlich die finsteren Burschen an Bord der Karacke erkennen. Es mußten tatsächlich über hundert Mann sein.
Auch der kleine Hasard war ein bißchen blaß um die Nase geworden. Er sah ein, daß gegen diese Übermacht selbst Tollkühnheit und Mut nichts ausrichten konnten.
Laute Stimmen wehten zu ihnen herüber. Auf dem Achterdeck der Karacke stand ein Mann, der alle anderen überragte. Sein Haar hatte er mit einem roten Kopftuch zusammengehalten, das im Nacken verknotet war. Sein Oberkörper war bloß. Nur ein Bandelier, in dem mehrere Messer und eine Pistole hingen, schlang sich von der rechten Schulter zur linken Hüfte um den Brustkasten. Dicke Muskelstränge spielten unter der bronzefarbenen Haut. Er fuchtelte mit der rechten Hand herum, in der er einen Krummsäbel hielt, und brüllte seine Männer an, die sich in der Kuhl darum bemühten, das Deck aufzuklaren.
„Wie redet der denn?“ fragte Hasard den neben ihm liegenden Matt Davies leise.
„Das ist ein Schneckenfresser“, erwiderte Matt Davies grollend. „Das hat uns gerade noch gefehlt. Mit den Kerlen ist nicht gut Kirschen essen.“
„Warum nicht?“ fragte Philip, der auf der anderen Seite von Matt Davies lag.
„Die meisten von ihnen mögen uns Engländer nicht“, sagte Matt. „Sie haben uns den Hundertjährigen Krieg noch nicht vergessen.“
„Mann, hundert Jahre?“ Hasard pfiff durch die Zähne. „Bist du auch noch dabeigewesen?“
„Nee, der ist schon über hundert Jahre aus“, sagte Matt.
„Meinst du, daß das Bukaniere von Espanola sind, von denen Dad uns erzählte?“ fragte Hasard.
Matt schüttelte den Kopf. „Die Bukaniere jagen die wilden Rinder und Schweine auf Espanola“, erwiderte er. „Aber es können Flibustier sein, die wildesten unter den Korsaren und Piraten. Es heißt, daß sie eines Tages ganz Westindien beherrschen und die Spanier zum Teufel jagen werden.“
„Erzähl den Bengels nicht so ’n Quatsch“, sagte Blacky. „Sie können den Dons vielleicht mal die eine oder andere Galeone abknöpfen oder mal eine Siedlung überfallen, aber gegen die großen Flotten müssen sie den Schwanz einkneifen.“
„Still!“ zischte der Kutscher.
Die anderen hatten es ebenfalls gesehen. Der Anker der Karacke schlug platschend aufs Wasser und versank. Gleichzeitig wurde an Steuerbord ein Boot zu Wasser gelassen, und eine Gruppe von wild aussehenden Piraten pullte wenig später ans Ufer. Wahrscheinlich sollten sie die Umgebung absuchen, damit sie vor unliebsamen Überraschungen sicher waren.
„Hoffentlich gehen sie nicht am Ufer entlang flußaufwärts“, flüsterte der Kutscher.
Es war, als hätten die Piraten die Worte gehört. Ein halbes Dutzend von ihnen stampfte durch den Ufersand auf die Stelle zu, an der sie ihr Boot in die Büsche gezogen hatten. Die anderen Piraten verschwanden in der Bresche des Trockenwaldes, durch die auch Matt Davies und die anderen auf der Suche nach etwas Eßbarem die Erkundung der Insel in Angriff genommen hatten.
„Wenn sie unser Boot finden, sind wir geliefert“, sagte Blacky grimmig. „Sie werden die Insel durchkämmen, und ich hab bisher keinen Ort gesehen, an dem wir uns vor ihnen verstecken könnten.“
Niemand gab ihm darauf eine Antwort. Sie starrten den Piraten entgegen, die sich immer weiter der Stelle näherten, an der die Schleifspuren des Bootes noch zu erkennen waren. Die Flut ließ den Fluß zwar schon wieder ansteigen, aber noch lange nicht genug, um die verräterischen Spuren zu löschen.
„Wir müssen was unternehmen!“ stieß Stenmark hervor.
Der Kutscher richtete sich plötzlich auf.
„Los!“ sagte er hastig. „Wir laufen ihnen entgegen. Wir dürfen nicht warten, bis sie anfangen, nach uns zu suchen. Wir müssen uns freiwillig zeigen!“
„Bist du verrückt?“ Blacky packte die Schulter des Kutschers und wollte ihn wieder zu Boden zerren. Aber der Kutscher befreite sich von dem harten Griff.
„Ich hab eine Idee“, sagte er. „Ich glaube, es müßte hinhauen.“
„Und wenn nicht, werden wir in ein paar Stunden von den Aasvögeln gefressen, wie?“ knurrte Blacky.
„Verdammt, sie haben gleich die Spuren erreicht!“ Die Stimme des Kutschers überschlug sich fast vor Erregung. Er nahm jetzt keine Rücksicht mehr auf die anderen. Mit ein paar schnellen Schritten hatte er die Deckung der Uferbüsche verlassen und trat aufs freie Ufer hinaus.
Die Piraten, die nur noch fünfzig Yards von den Schleifspuren entfernt waren, blieben abrupt stehen und griffen nach ihren Waffen. Sie starrten dem Kutscher entgegen, als sei er ein Geist. Sie mußten wohl erst ihre Überraschung überwinden, daß sich auf dieser Insel Menschen aufhielten.
Matt Davies hatte inzwischen begriffen, welchen Plan der Kutscher ausgeheckt hatte. Er scheuchte die beiden Jungen hoch und sagte zischend zu den anderen: „Hinterher, Jungs! Der Kutscher hat recht. Wenn wir uns ihnen freiwillig zeigen, können wir ihnen eine Geschichte erzählen, die sie uns glauben.“
Sie liefen hinter dem Kutscher her, und Matt schärfte Blacky, Stenmark und Batuti ein, die Hände von den Waffen zu lassen.
Der Kutscher kümmerte sich nicht um die ihm entgegengestreckten Entermesser und Säbel. Sein Gesicht war ein einziges Strahlen.
„Willkommen, Freunde!“ rief er begeistert. „Wir hätten nie daran geglaubt, daß wir von dieser verdammten Insel so schnell wieder befreit würden!“
„Assez!“ brüllte einer der Piraten und wollte sich mit blitzender Klinge auf den Kutscher werfen.
Einer seiner Kumpane hielt ihn am Arm zurück. Er sagte etwas zu ihm, das der Kutscher nicht verstand.
„Bist du Engländer?“ fragte er dann, und an seiner gedehnten Sprechweise und dem rollenden R hörte der Kutscher, daß der Mann ein Schotte war.
Der Kutscher atmete auf. Wenigstens war einer unter den Piraten, der ihre Sprache sprach und mit dem sie sich verständigen konnten.
„Ich und zwei weitere meiner Kameraden sind Engländer“, sagte er. „Einer ist Schwede und der letzte ein Schwarzer aus Gambia.“
Der Schotte starrte am Kutscher vorbei auf die restlichen Männer, die sich den Piraten zögernd näherten.
„Kinder habt ihr auch dabei?“ fragte er verwundert.
„Es sind meine Söhne“, sagte der Kutscher ein bißchen zu hastig. „Zwillinge. Ihre Namen sind Hasard und Philip.“
Der Franzose, ein schmächtiger Mann mit einem Sichelbart und einem Zinken im Gesicht, der bestimmt die Hälfte des ganzen Kopfes wog, redete zornig auf den Schotten ein, aber der winkte nur ab.
„Wir wollen wissen, was ihr hier auf der Insel zu suchen habt“, sagte er. „Habt ihr was mit der verdammten Galeone zu tun, die uns die Masten weggeschossen hat?“
„Wir hatten“, erwiderte der Kutscher. „Der Kapitän dieser Teufelsgaleone ist der übelste Leuteschinder und Betrüger, unter dem wir je gefahren sind. Er wollte uns hier an Land bei lebendigem Leib rösten, weil wir unseren gerechten Anteil an einer Beute gefordert hatten. Zum Glück tauchtet ihr auf, und Bloody James mußte ankerauf gehen. Aber er wollte zurückkehren, um seine Strafe an uns zu vollziehen, wenn er euch auf den Grund des Meeres geschickt hätte.“
Der Schotte begann zu grinsen. „Dann sind wir also eure Lebensretter, wie?“ Er wandte sich an den kleinen Franzosen, dessen schwarze Augen rollten, als würde er sich von niemandem davon abhalten lassen, mindestens einen der Engländer zu massakrieren. Sie sprachen eine Weile miteinander, und der Kutscher hörte ein paarmal den Namen „Bloody James“. Anscheinend kannten sie ihn nicht.
Was Wunder, dachte der Kutscher.
„Sind sonst noch Menschen auf