Er schickte sich an, das Haus zu umrunden, und sein Landsmann folgte ihm, wobei er aufmerksam nach allen Seiten sicherte.
Der erste Posten war an der Südseite des Gebäudes und schob sich mit vorgehaltener Waffe auf die hintere Ecke zu. Der zweite hielt sich auf drei bis vier Schritte Distanz hinter ihm, wandte aber jäh den Kopf, weil er zu seiner Linken – dort, wo das Wohnhaus von La Menthes französischer „Garde“ stand – eine Bewegung registriert zu haben glaubte.
Etwas flog auf ihn zu. Es war ein Stein, aber das bemerkte er zu spät. Der Stein traf mit geradezu unheimlicher Präzision seine Schläfe, und er sank zusammen, noch ehe er seine Muskete hochbringen und den Zeigefinger um den Abzug krümmen konnte.
Der erste Posten fuhr herum, aber von der Rückseite des La-Menthe-Gebäudes schnellte jetzt ein Schatten auf ihn zu und warf sich auf ihn. Vom Nebenhaus näherte sich die schwarze Gestalt, die den Stein geworfen hatte, und hieb dem Franzosen einen zweiten Gesteinsbrocken auf den Kopf, bevor dieser den anderen Angreifer abzuschütteln vermochte.
Der Franzose gab einen würgenden Laut von sich, ließ die Muskete los und streckte Arme und Beine von sich. Er war ohnmächtig geworden. Der Mann mit dem Stein wollte wieder und wieder auf ihn einschlagen, doch sein Freund hielt ihn zurück.
„Wir wollen sie nicht töten, Bruder“, raunte er. „Wir wollen nicht so barbarisch sein wie sie.“
Der andere nickte, wenn auch widerwillig. Er half seinem Stammesbruder, die beiden Bewußtlosen zu dem Sklavenhaus zu schleppen. Dann nahmen sie dem einen den großen Schlüsselbund ab, suchten den passenden Schlüssel hervor und entriegelten die Tür. Sie drückten sie auf und flüsterten den Insassen des einzigen Raumes ein paar beruhigende Worte zu.
Das Licht der Öllampe, die unter dem einen Deckenbalken baumelte, fiel auf ihre halbnackten Gestalten, so daß die zehn überraschten Senegalesen keine Schwierigkeiten hatten, sie sofort als die beiden Sklaven zu identifizieren, die La Menthe und Duplessis auf dem Bergpfad entlaufen waren.
Die Flucht war den beiden schwarzen Männern gelungen, und jetzt waren sie ins Lager ihrer Bezwinger zurückgekehrt, um ihre Brüder und Schwestern zu befreien.
10.
Lodovisi, Zorzo, Prevost und die übrigen Meuterer der „Novara“ trafen wenige Minuten später am Bachlauf ein und schlichen daran entlang auf die Einfriedung des Lagers zu.
Sie pirschten eine Weile um die Mauer herum, wagten aber nicht, darüber hinwegzuklettern, weil sie damit rechneten, daß die Wachtposten, die nach ihren Vorstellungen im Inneren Patrouille gingen, sofort auf sie schießen würden.
So erreichten sie, immer noch uneinig, was zu tun war, das Tor des Anwesens. Zu ihrer großen Überraschung stand es nur angelehnt und ließ sich leicht aufschieben. Es bewegte sich in gut geölten Angeln und gab kein verräterisches Knarren oder Quietschen von sich.
„Vorsicht“, warnte Prevost. „Das könnte eine Falle sein.“
„Glaube ich nicht“, sagte Zorzo ebenso leise. „Drinnen ist alles ruhig. Möglich, daß alle Mann ausgerückt sind, um sich in den Bergen gegen den Feind zu wehren, egal, wer’s ist.“
„In den Bergen wird nicht mehr geschossen“, flüsterte Lodovisi. „Es ist verdächtig still. Der Kampf scheint entschieden zu sein. Wer gewonnen hat, soll uns nicht kratzen. Wir müssen nur damit rechnen, daß die, denen das hier gehört, bald zurückkehren. Also los, beeilen wir uns.“
Entschlossen schlüpfte er durch den Spalt des Tores ins Innere des Lagers. Sein erster mißtrauischer Blick galt den Häusern, in denen die Lichter brannten, die sie von der Anhöhe aus gesichtet hatten. Offenbar befand sich kein Mensch in diesen Bauten, und auch auf dem großen freien Platz davor und dazwischen bewegten sich keine Gestalten.
Lodovisi sah nach rechts und sah ein Geschütz, das er sofort als ein Falkonett einstufte, als einen Dreipfünder also. Daß La Menthe und dessen Kumpane es seinerzeit aus dem Wrack ihres Schiffes geborgen und zur Insel geschafft hatten, konnte er nicht wissen, aber es hätte ihn auch weniger interessiert als die Tatsache, daß neben dem Falkonett Kugeln lagen und ein Pulverfäßchen bereitstand. Außerdem gab es ein kleines Kupferbecken, in dem Holzkohle zum Anzünden der Lunte glomm. Die Mündung des Geschützes ragte in eine schmale, hohe Schießscharte der Mauer, blickte somit also ins Freie, um etwaigen Angreifern einen Eisengruß entbieten zu können.
Die beiden Wachtposten hatten das Holzkohlenfeuer angezündet, als La Menthe Alarm geschrien und drei Männer aus dem Lager abgezogen hatte. Das gehörte zu den Routinemaßnahmen, die ergriffen wurden, wenn Gefahr im Verzug war.
„Zorzo“, raunte Lodovisi. „Hier steht ein wunderbares kleines Spielzeug, das dir gefallen wird, und ich rate dir, gleich daran Wache zu halten, damit wir den Rücken frei haben.“
„Ist das ein Befehl?“
„Natürlich ist er das.“
„Ich mag es nicht, wenn du mich wie einen Hund herumkommandierst, Lodovisi“, zischte Mario Zorzo. „Du bist jetzt nicht mehr der Profos, merk dir das.“
„Streitet jetzt nicht“, flüsterte Prevost. „Es ist nicht der richtige Augenblick dafür. Wir können später noch diskutieren, wer das Sagen hat.“
„Also gut, einverstanden“, sagte Zorzo. Er drängte sich an Lodovisi vorbei, der ihn mit einem mißbilligenden Blick bedachte, und nahm Aufstellung an der Kanone.
Lodovisi, Prevost und die fünf anderen schlichen vom Tor aus über den Platz und näherten sich dem Sklavenhaus, dessen Tür halb offen stand. Sie sicherten nach links und nach rechts, vermochten aber nach wie vor niemanden zu entdecken, der ihnen in die Quere geraten konnte.
Groß war ihr Erstaunen allerdings, als sie in dem großen Raum des Sklavenhauses eine Bewegung sahen. Sie wichen zur Seite, pirschten bis zum Türrahmen vor und blickten sich grinsend an.
Aus dem Haus drang das aufgeregte Tuscheln von Stimmen – von Frauenstimmen.
Die beiden französischen Wachtposten waren von den Senegalesen an die Wand neben der Tür gekettet worden. Sie waren nach wie vor ohnmächtig. Lodovisi und seine Bande konnten sie von ihrem derzeitigen Standort aus nicht sehen.
Die sechs schwarzen Männer hatten sich zu dem Haus hinüberbegeben, in dem ihres Wissens die Waffenkammer untergebracht war, und die sechs Frauen hatten die Anweisung erhalten, so lange auf sie zu warten, bis sie mit Musketen und Pistolen zurückkehrten und sie abholten. Dann wollten sie gemeinsam in den Dschungel flüchten und mit Hilfe der Werkzeuge, die sie ebenfalls aus dem Lager mitnehmen wollten, Bäume fällen und während der Nacht noch ein großes Floß zimmern, das sie hinaus auf die See und fort von Martinique bringen sollte, das für sie die Insel des Schreckens war.
Die Frauen sahen erwartungsvoll zur Tür, als sich dort jetzt etwas regte, aber im nächsten Augenblick schrien sie entsetzt auf, denn es waren nicht ihre Stammesbrüder, die sich hereinschoben, sondern weiße Männer in zerfetzter, durchnäßter Kleidung, die Entermesser in den Fäusten hielten und einen furchterregenden Anblick boten.
Prevost schritt mit gemeinem Grinsen auf die Frauen zu. Sie wichen vor ihm zurück. Er sah ihre vollen, wippenden Brüste, ihre weichen Hüften und die kaum bekleideten Schenkel, und er hatte in diesem Moment nur dieses eine Bild vor Augen, das ihn fast um die Beherrschung und um den Verstand brachte.
„Nicht so ängstlich“, sagte er. „Gerechter Himmel, ihr braucht euch doch vor einem gestandenen Mannsbild nicht zu erschrecken. He, Lodovisi, sieh dir das an, wer hätte gedacht, daß wir hier so üppiges Weibervolk vorfinden würden? Das ist was für unsereinen, sage ich, und zwar sofort. Los, ihr schwarzen Huren, laßt euch mal richtig anfassen und ziert euch nicht so. Ihr kennt das doch bestimmt und könnt es kaum erwarten, mal wieder von einem weißen Mann so richtig vorgenommen zu werden.“
„Hör auf“, sagte Lodovisi.