Ich habe Licht gebracht!. Anja Zimmer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Anja Zimmer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783867295666
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besuchen. Herrn Müller hatte sie nur mitgeteilt, dass sie kommt, aber von sich aus kein Treffen vorgeschlagen. Sie sehnte sich nach seiner Nähe, aber gleichzeitig machte sie ihr Angst.

      Liddy empfing sie wieder mit ihrem Vater an der Station.

      »Ich habe noch ein Billett für dich ergattert; im ersten Rang. Ein richtig guter Platz.« Von Gustav sagte sie nichts; und Louise fragte sich, ob sie darüber traurig oder erleichtert sein sollte. Natürlich war es viel leichter, von Angesicht zu Angesicht zu sprechen, so ganz unmittelbar die Empfindungen des Gegenübers im Gesicht abzulesen, so viel mehr zu lesen als ein Brief tragen konnte. Aber so nah bei ihm zu sein? Sie musste zugeben, dass er ihr gefiel. Noch niemals hatte sie einen solchen Mann erlebt, so bescheiden in seiner Art und doch so meisterhaft in all seinem Können. Aber wie würde mit ihm ein Alltag aussehen? Würde sich nicht alles, was ihr so lieb und wert war, verflüchtigen zwischen Kochen, Wäsche – und Tante Malchen?

      Diese Gedanken waren weit weg, als sie am nächsten Abend schon mit Liddy im ersten Rang des Theaters saß. Sie hatten sich mit einiger Sorgfalt angezogen und gegenseitig frisiert, denn Louise wollte nicht auffallen zwischen all den eleganten Städterinnen. Wie immer trug sie Himmelblau; die langen dicken Zöpfe hatte Liddy ihr besonders kunstvoll aufgesteckt. Die beiden Frauen hatten sich ein Programm gekauft, auf dem in festlichen Buchstaben prangte: »I Capuleti e i Montecci – eine lyrische Tragödie von Vincenzo Bellini«.

      Anders als in Shakespeares Theaterstück schilderte diese Oper nicht das Kennenlernen der beiden tragisch Liebenden, sondern den letzten Tag in ihrem kurzen Leben.

      Louise liebte die Momente vor einer Vorstellung: diese flüchtige Zeit, wenn es im Zuschauerraum noch summte wie in einem Kirschbaum im Frühling, wenn die Kronleuchter noch alle brannten, Leute ihre Plätze suchten, ihre Freunde entdeckten und von weitem begrüßten. Natürlich hatten sich alle fein gemacht. Die Herren trugen ihre dunklen Anzüge, die Frauen schimmernde Kleider; Juwelen blitzten im Kerzenschein auf, Fächer wedelten und Pelzkrägelchen wurden zurechtgerückt. Manche der Damen hatten nicht auf einen üppigen Federschmuck auf dem Kopf verzichten wollen, was von den hinteren Reihen nicht geschätzt wurde. Darüber gab es gestenreiche Diskussionen, wie Louise schmunzelnd bemerkte. Ebenfalls amüsierte es sie, zu sehen, wie andere Leute ihre Mitmenschen beobachteten; wie hinter vorgehaltenen Fächern offensichtlich über das Kleid oder den Kopfputz einer Dame gelästert wurde, die man aber mit dem freundlichsten Lächeln bedachte, wenn sie sich näherte, nur um gleich wieder den Fächer zu heben und dahinter weiterzulästern.

      Am meisten genoss Louise die Kakophonie des Orchesters, wenn die Instrumente gestimmt wurden. In dem Wirrwarr aus Tönen erkannte man hier und dort schon einzelne Sequenzen aus der Ouvertüre.

      Endlich löschte man die Lichter, der prächtige Saal versank in der Dunkelheit, nur im Orchestergraben fiel Kerzenschein auf die Notenblätter. Der Dirigent erschien und bekam Applaus, dann hob er seinen Taktstock. Mitreißend, euphorisch, dann wieder melancholisch verströmte das Orchester Stimmungen und nahm auf diese Weise die Handlung des Stückes vorweg. Der Vorhang hob sich, der Männerchor, der die Verbündeten der Capuleti darstellte, versammelte sich, um die Montecchi zu verderben. Mit Säbeln bewaffnet sangen sie vom Untergang ihrer Feinde. Und dann betrat Romeo die Bühne. Wie ein Blitzstrahl traf es Louise, als sie endlich die von ihr so sehr verehrte Wilhelmine Schröder-Devrient sah und hörte. Konnte eine menschliche Stimme so überirdisch klingen? Jeder Ton schien wie ein Diamant aus ihrem Mund zu leuchten, ihre Stimme glänzte in den Höhen und hatte in den Tiefen eine überraschende Fülle, wie sie nur wenige Sopranistinnen haben. Klein und zart stand sie zwischen den Männern, perfekt den Jüngling Romeo verkörpernd, der durch sein tiefes Lieben so sehr verletzlich war. Unerkannt trat er vor seine Feinde, um ihnen Frieden anzubieten. Ja, er bat sogar um Giuliettas Hand für Romeo, um den Frieden zu besiegeln.

      Harsch wurde er abgewiesen. Kampf und Blutvergießen waren unausweichlich. Obwohl Louise und Liddy wussten, wie das Stück enden würde, fieberten sie mit, bangten mit den beiden Liebenden. Romeo wollte Giulietta entführen, doch sie weigerte sich – aus Pflichtbewusstsein gegen ihren Vater, und schwor Romeo ewige Treue, im Leben wie im Tod. Eng umschlungen standen die beiden Liebenden auf der Bühne, der Vorhang fiel und ein so tosender Applaus brandete auf, wie ihn Louise selten gehört hatte. Schon nach kurzer Zeit taten ihr die Arme weh, sodass sie sich erschöpft in ihren Sitz zurückfallen ließ. Während Liddy im Programmheft blätterte, um die genauen Worte auf Deutsch nachzulesen und sich auf den zweiten Akt vorzubereiten, ließ Louise ihren Blick durch den Saal schweifen. Da fühlte sie sich plötzlich beobachtet. Wie magnetisch angezogen musste sie ihren Kopf wenden und sah – Gustav Müller, der sie intensiv anschaute. Sie atmete so kurz und heftig ein, dass sie schon fürchtete, Liddy könnte diesen Verlust von Contenance bemerkt haben, aber sie las zu aufmerksam in ihrem Heft. Louise spürte nur noch eine tiefe, innige Freude, diesen Mann zu kennen. Lächelnd schaute sie ihn an. Gustav bedeutete ihr mit einer Geste, dass er zu ihr kommen werde, aber schon verlosch wieder das Licht und sie mussten sich bis zum Ende gedulden.

      Und während auf der Bühne das Schicksal seinen Lauf nahm und die beiden Liebenden im Leben nicht vereint sein konnten, spürte Louise einen Aufruhr in sich, wie sie ihn niemals für möglich gehalten hätte. Sie war wie in einem Rausch, denn so viel Schönes an einem Abend war deutlich mehr, als sie sonst erlebte.

      Ewig schien der Applaus zu dauern, Wilhelmine Schröder-Devrient musste unzählige Male auf die Bühne kommen, aber auch Giulietta wurde mit Bravo-Rufen bedacht.

      In Louises Innerstem flatterten wilde Vögel, als sie zwischen all den anderen Menschen beglückt und beseelt dem Ausgang zustrebte. Sie wagte kaum, sich umzublicken, aber Herr Müller hatte sie längst gesehen und kam zu ihr und Liddy.

      Louise war ihm dankbar, dass er es bei einer kurzen Begrüßung beließ und das Erlebte im Schweigen nachwirken ließ. Stumm gingen sie durch das nächtliche Dresden, wo Straßenfeger die Hinterlassenschaften der vielen Kutschpferde beseitigten.

      Mehr mit Gesten als Worten verabredeten sie sich für den kommenden Tag und verabschiedeten sich mit einem langen Händedruck.

       Meißen, im Mai 1840

      Louise musste sich immer wieder beherrschen, nicht zu viel Freude zu zeigen, wenn wieder ein Brief von Gustav kam. Es war so unendlich aufregend, mit einem solchen Mann im Briefwechsel zu stehen. Ja, er teilte ihre Meinung in vielen Dingen und war ein Mann, wie es noch viel mehr geben müsste, wie Louise fand. Er war besonnen, hatte einen klaren Blick auf die Welt und schätzte Klugheit und Talent; ganz gleich, ob es sich in einem Mann oder einer Frau fand. Nur hier und da leistete er sich Ausrutscher, wenn er behauptete, der große Publizist Börne sei keine Lektüre für Damen. Einmal meldete er leise Zweifel an, ob das Talent, das sich in einer Frau findet, mit dem Lärm eines häuslichen Herdes vereinbar sei. Und an dieser Stelle hatte seine Feder plötzlich über das Papier gekratzt und ein paar Kleckse hinterlassen. Im folgenden Satz brachte er die entschiedene Überzeugung zum Ausdruck, dass es wohl doch vereinbar sein müsse. Louise grinste in sich hinein. Erst hielt er es für unmöglich, dann aber doch? Da hatte er wohl gerade noch mal die Kurve gekriegt, der gute Herr Müller. Mit einem Seufzer schaute Louise aus dem Fenster, das sie vor drei Wochen schon putzen wollte. Kein Dichter dieser Welt hatte beim Anblick schmutziger Fenster ein schlechtes Gewissen, denn für ihn erledigten solche Banalitäten dienstbare Geister; oder die Fenster blieben schmutzig und wurden geöffnet, wenn der Herr Dichter wissen wollte, wie das Wetter war. Das war der große Unterschied. Die Hausarbeit blieb einfach immer an den Frauen hängen. Jeder wusste, was eine »Hausfrau« war. Aber ein »Hausmann«? Gab es das Wort überhaupt?

      Louise antwortete Herrn Müller entsprechend: »Nein, mein lieber Freund, es ist nicht möglich, Muse und häuslichen Lärm zu vereinbaren. Ich habe mich der Muse verschrieben und keine Macht des Himmels und der Erde kann mich meinem Schwur untreu machen.«

      Sie schloss und siegelte den Brief, dann hielt sie ihn lange in ihrer Hand. Die Freundschaft mit Gustav Müller war ihr teuer. Er war ihr teuer. Er war ihr Liedergefährte, den sie sich gewünscht hatte. Doch wenn er um sie würbe, müsste sie ihn ablehnen. Mit ihrem »Nein!« würde sie auch gleichzeitig die Freundschaft beenden. Nein! Er sollte gleich wissen, was sie von der Ehe hielt und gar nicht erst auf den Gedanken kommen, um sie